Nocturne City 01 - Schattenwoelfe
verabschiedete sich mit einem Knacken, und um mich herum breitete sich absolute Stille aus, die nur von den Geräuschen der ab und zu auf der Schnellstraße vorbeirasenden Autos zerrissen wurde. Ohne lang zu zögern, ließ ich den Wagen wieder an, trat aufs Gaspedal und nahm die Abfahrt 43 nach Ghosttown.
Ghosttown hatte früher einmal Appleby Acres geheißen, nach Francis Appleby, einem modernen Nachkriegsbürgermeister, der dieses Viertel als eine Art Vorzeigedorf für die sozial Benachteiligten im Herzen von Nocturne City hatte errichten lassen mit einer ganzen Reihe gepflegter Sozialbauten, Hotels und Läden. Schon bald aber waren mehr und mehr Werwölfe und Hexen in die Gegend gezogen. In der armen. Nachbarschaft von Appleby Acres gab es damals viele Menschen, die sich nur allzu gut an die Zeiten erinnerten, in denen die Werwolfrudel in Nocturne City wie eine haarige Mafiabande gewütet hatten. Angst und Panik vor den Wölfen und den Hexen mit ihren Zauberkräften ergriffen die Bewohner des Viertels und verbreiteten sich wie Viren von einem Häuserblock zum nächsten. Im August 1969 war die Situation schließlich eskaliert und hatte Appleby Acres in einem Feuersturm von Tod und Vernichtung aufgehen lassen. Die Hex Riots hatten zwei Wochen gedauert und nicht nur den sorgsam errichteten Hafen von Bürgermeister Appleby zermalmt, sondern mit ihm auch die Hoffnung auf Fortschritt und das Versprechen einer besseren Zukunft. Offiziell wohnte nach den Hex Riots dort niemand mehr. Inoffiziell hatten die Werwölfe und Hexen die Gegend niemals verlassen.
Ein dünner Bodennebel hatte sich in der Nachtluft gebildet, und aus den dunklen Zementblöcken der Gebäude kroch die Feuchtigkeit auf die Straße. Mittlerweile war Ghosttown zu einem Slum verkommen – ein äußerst gefährlicher Ort für alle, die weder das Blut noch den Biss hatten. Die Gegend war neutrales Gebiet für die Werwölfe, die über die Jahre hinweg auch in anderen Vierteln den Drogenhandel und den Straßenstrich an sich gerissen hatten. Für alle unbefugten Zivilisten war sie eine absolute No-go-Area – verirrte sich doch mal jemand in dieses Viertel, musste er sich glücklich schätzen, wenn die Cops noch genügend DNA-Material von der Straße kratzen konnten, um ihn zu identifizieren.
All meine Gedanken liefen auf eine Frage hinaus: Warum gab sich Stephen Duncan als Sohn eines angesehenen menschlichen Bezirksstaatsanwalts mit einer ukrainischen Immigrantin ab, die dieses Drecksloch von einem Slum als ihre Adresse angab? Sollte sie tatsächlich hier wohnen, musste sie entweder eine Werwölfin oder eine Bluthexe auf der Flucht sein.
Als ich auf den traurigen Überbleibseln einer einstmals breiten Boulevardstraße mit begrüntem Mittelstreifen in das Viertel fuhr, merkte ich bald, dass ich auf der mit Schlaglöchern übersäten Fahrbahn nicht weiterkommen würde. Ich fuhr den Fairlane also rechts ran, schaltete die Scheinwerfer aus und wartete.
Entweder war Ghosttown tatsächlich nicht bewohnt, wie es die Stadtverwaltung alle Menschen in Nocturne City glauben machen wollte, oder die Bewohner dieses Viertels versteckten sich gerade und warteten genauso gespannt auf meine nächste Bewegung wie ich auf die ihre. Die klobigen Sozialwohnblöcke ließen die Nacht fast pechschwarz erscheinen. Zwischen ihnen verliefen Unmengen an sich kreuzenden Stromkabeln, die den Himmel wie ein riesiges, bedrohliches Spinnennetz wirken ließen. Ein auf ein paar Betonklötzen aufgebockter, vollkommen ausgebrannter Buick rundete die Szenerie ab.
Im Nebel wurde ein flackerndes Licht sichtbar, das zusammen mit einem eigenartigen Gerät unter knarrenden Geräuschen näher kam. Es war ein Einkaufswagen, an dessen Vorderseite eine Taschenlampe befestigt war und der von einem Mann in einem zerlumpten Regenmantel geschoben wurde. Als er mein Auto sah, blieb er stehen. Ich öffnete behutsam die Tür und stieg aus.
Er hob eine Hand zum Gruß. „Guten Abend.“
„Hallo“, nickte ich ihm zu.
„Nicht aus Ghosttown, was?“
Ich schloss die Wagentür und drehte den Schlüssel im Schloss. „Sehr scharfsinnig beobachtet. Stimmt, ich bin nicht von hier.“
„Keine Ahnung, was das heißt – scharf und sinnig.“
Ich ging hinten um den Wagen und trat zu dem Mann auf den Gehweg. Das Licht seiner Taschenlampe blendete mich, sodass sich sein Gesicht auf ein paar leere Augen und ein Leuchten an der Stelle, wo ich die Zähne vermutete, reduzierte. Riechen konnte ich ihn allerdings –
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