Noelles Demut
habe das Gefühl, dich schon ewig zu kennen.“
„Mir geht es auch so. Das ist unheimlich. Als ich erzählen musste, was passiert ist, hatte ich bei dir die wenigsten Skrupel. Ich habe dir von Anfang an vertraut.“
Sie lächelten einander an.
Der Kellner unterbrach ihre Zweisamkeit und brauchte eine Ewigkeit, um den Milchkaffee abzustellen und zu fragen, ob sie noch einen Wunsch hätten.
Als er endlich verschwunden war, fragte Ann: „Also erzähl mal: Wie war deine Woche?“
„Ich bin Alleinerbin. Tom hatte keine Verwandten mehr. Simon war so lieb und hat mich nach Boston begleitet. Ich brauchte meine Zeugnisse und Unterlagen. Ich bin so überstürzt weg, dass ich daran nicht gedacht habe.“
„War’s schlimm?“
Noelle nickte und hielt sich an der Tasse Milchkaffee fest. „Es ist merkwürdig. Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich gar nicht ich, als wären diese Erinnerungen nicht meine. Und im nächsten Augenblick höre ich Toms Stimme. Ich spüre die Schläge, die Angst und die Erniedrigung. Er hatte nicht einmal das Blut weggewischt. Es war furchtbar. Und das Schlafzimmer war der reinste Saustall. Er hat meine ganzen Sachen zerschnitten und im Zimmer verteilt.
Meine Papiere hatte ich zum Glück unter dem Bett versteckt. Die hat er nicht gefunden. Und dann ist überhaupt das Schlimmste passiert. Als ich die alten Fotos sah, war mir, als hätten die letzten zwei Jahre nicht existiert. Ich war wieder in Frankreich und glücklich. Das hat Simon am meisten Angst gemacht. Mit allem hätte er umgehen können, aber nicht mit meiner Freude.“
„Das verstehe ich nicht“, sagte Ann. „Er kann nicht damit umgehen, wenn du den Mist vergisst?“
„Das ist es ja. Ich kann es nicht vergessen. Ich schalte die Erinnerungen aus. In diesen Momenten bin ich die, die ich vorher war. Der Wechsel kommt schlagartig. Angehende traumatische Psychose hat die Psychologin es genannt. Ich war heute beim Seelenklempner.“
„Ich weiß. Simon war heute Morgen bei mir.“
„Oh Gott! Er hat mit dir über meine Probleme gesprochen?“
„Nein! Da kennst du Simon schlecht. Er ist nicht der Mann vieler Worte. Er war bei mir, um mir zu sagen, dass wir uns nicht mehr sehen können.“
Anns letzter Satz traf Noelle wie ein Schlag. Ihr Herz begann zu rasen. Da war Angst in ihr. Nicht die Angst, die sie die letzten beiden Jahre begleitet hatte. Es war ein anderes, subtileres Gefühl: Verlustangst.
„Und deshalb hast du mich angerufen! Willst du von mir hören, dass ich kein Problem damit habe, wenn du meinen Freund vögelst?“, presste Noelle zwischen den Lippen hervor.
„Beruhige dich!“
„Ich kann mich aber nicht beruhigen.“ Noelle wurde laut. Eigentlich war es nicht ihre Art, so aus der Haut zu fahren, aber ihr Besitzanspruch auf Simon war enorm. Sie würde ihn nicht teilen, niemals.
Noelle griff nach ihrer Tasche und wollte auf der Stelle gehen. Sanft legte sich Anns Hand auf ihren Arm.
„Noelle, warte! Es ist nicht meine Absicht, dir Simon streitig zu machen, im Gegenteil. Ich möchte euch helfen.“
„Wir brauchen keine Hilfe.“
„Bitte setz dich wieder.“
„Warum?“, fragte Noelle bissig.
„Weil Simon mein Freund ist. Ich möchte, dass er glücklich ist.“
Noelle sank auf den Stuhl zurück. Die Skepsis in Anns Stimme war ihr nicht entgangen. Ann kannte Simon schon viel länger, und sie wusste wahrscheinlich genau, was er wollte und liebte. Sie, mit ihrem Chaos im Kopf und den unkontrollierbaren Gefühlsausbrüchen, war bestimmt nicht die Richtige für einen Mann wie Simon. Leise fragte sie: „Und du glaubst, das kann er mit mir nicht sein?“
„Das weiß ich nicht. Deshalb habe ich dich angerufen. Ich möchte dich kennenlernen.“
Noelle nippte an ihrem Kaffee. Einige Gäste hatten sich nach ihr umgedreht, und der flirtende Kellner beäugte sie skeptisch.
„Auf jeden Fall kennst du jetzt meine aufbrausende Seite.“
„Und die ist nicht zu verachten“, lächelte Ann. „Du kannst mir vertrauen, Noelle. Ich möchte wirklich nichts Böses.“
„Woher kennst du Simon?“
„Wir haben uns auf einer Party kennengelernt. Lass mich überlegen. Vor knapp sieben Jahren. Mann, jetzt komme ich mir verdammt alt vor.“
„Wie alt bist du überhaupt? Wenn dir die Frage nicht zu indiskret ist.“
„Überhaupt nicht. Ich bin dreiundvierzig.“
„Wow! So möchte ich auch aussehen, wenn ich über vierzig bin.“
„Danke!“
„Und wie alt ist Simon?“
„Einundvierzig. Sprich ihn darauf
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