Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
Gesellschaft einnahmen.
Heute ist all das aus der Mode gekommen. Wir modernen Menschen sind körperlich und geistig gebändigt. Unser glorreichster Kampf findet nicht gegen einen ebenbürtigen Gegner statt, sondern wir kämpfen jeden Tag mit uns selbst, um unsere Lust zu unterdrücken, dem Nachbarn eins in die Fresse zu geben.
Doch zum Glück gibt es einen Ort, wo wir als Freizeitgladiatoren unserer geballten Zerstörungswut freien Lauf lassen können – den Arbeitsplatz. Im Berufsleben ist Nörgeln nicht nur möglich, es ist unverzichtbar.
»Das Nörgeln geht schon los, wenn die Arbeit beginnt und noch kein Kaffee gekocht wurde«, berichtete von der Front Sabine M., seit 16 Jahren einzige Sekretärin in einem Baubetrieb in Mecklenburg-Vorpommern. »Dabei gehört Kaffeemachen nicht zu meinen Aufgaben. Ich trinke nicht mal Kaffee. Mit den Jungs auf der Baustelle komme ich gut klar. Sie sind zwar rauer drauf, aber pflegeleicht. Die Kollegen in der Verwaltung, das ist die Hölle. Wenn ich mal vergessen habe, irgendwo ein Häkchen zu machen, dann wird sich aufgeregt und echauffiert. Meist endet das dann vor unserem Chef, der mich wegen dieses Häkchens zur Rede stellt. Es gibt Tage, da darf man nicht mal guten Morgen sagen, da ist der Kollege schon beleidigt.«
Es gibt viele wichtige Gründe für das Gemoser im Büro. Zum einen ist es ein gesellschaftlicher Kitt, der Allianzen ermöglicht und unerwünschte Kollegen isoliert.
»Zusammen meckern ist Team-Building «, bestätigte mir Nörgelbeobachter und Computerfachmann Heinrich T. aus Franken. »Es schafft Zusammenhalt. Man hat ja dieselben Probleme, so wird man zu Leidensgenossen und solidarisiert sich miteinander. Man kann sich wunderbar gegen andere Gruppen abgrenzen und zugleich selbst heraufsetzen.«
Zum anderen dient nörgeln aber auch der Erziehung der Kollegen.
»Nörgelt man lange genug an einem Kollegen herum, weil er einen Geschäftsbrief lieber mit ›freundlichem Gruß‹ statt mit ›freundlichen Grüßen‹ abschließen soll, lernt er es irgendwann«, sagte Sabine M. »Aber nur bei bestimmten Kollegen. Sie akzeptieren das. Andere reden dann eine Woche nicht mehr mit einem.«
Für jede Nörgel-Erziehungstechnik existiert auch eine Defensivtechnik, und die beliebteste heißt im Volksmund liebevoll »Dummstellen«.
»Wenn ich die Kollegen frage: ›Können Sie mal den Kaffeeautomat nachfüllen?‹, kommt oft: ›Ich weiß nicht, wie das geht‹,« seufzte Sabine M. »Das war’s dann. Einmal dumm gestellt reicht fürs ganze Leben. Neulich kam ich aus dem Urlaub wieder, der Kaffeeauffangbehälter war vierzehn Tage nicht ausgeleert worden. Die haben das Ding zwei Wochen lang nicht saubergemacht!«
»Ein besonderes Thema ist fachliche Überforderung«, bestätigte Richard D., Jurist und Nörgelconnoisseur bei einem staatlichen Versicherungsträger in Nordrhein-Westfalen, als er in seinem engen Zeitplan endlich ein Telefonat mit mir einschieben konnte. »Es heißt oft: ›Dafür bin ich nicht ausgebildet, woher soll ich das wissen, alles ändert sich viel zu schnell heutzutage.‹ Ein oft gehörter Satz im Haus: ›Das kann ich nicht.‹«
Obwohl jeder Büroangestellte heute mindestens einen Kurs über das Bedienen eines Computers absolviert hat, bleibt der Spruch, »ich weiß nicht, wie das geht«, interessanterweise grundsätzlich glaubwürdig.
»Manchmal kommen die Kollegen vom Kopierer«, erzählte Sabine M., »und meinen: ›Da hinten leuchtet so eine rote Lampe.‹ Ich gehe zum Kopierer und sehe, was auf dem Display blinkt: ›Bitte Papier nachfüllen.‹ Sie sagen dann, sie wüssten nicht, wie das geht.«
Der Lebensraum Büro ist dschungelgleich, und der Büroarbeiter wie ein wildes Tier, das jeden Tag um den Erhalt seines Reviers kämpfen muss … und wenn das übertrieben klingt, dann ist das Büroleben mindestens vergleichbar mit dem Leben in einem Haushalt mit mehreren Haustieren und nur einem Futternapf. Denn hier herrscht der primitivste Konkurrenzkampf. Nicht Konkurrenz um den Job, denn in Deutschland sind ja Arbeitsplätze zum größten Teil besser abgesichert als in den meisten anderen Ländern der Welt. Nein, nein: Der Kampf dreht sich vor allem um den Status. Denn während auf den ersten Blick im Büro eine strenge Hierarchie herrscht, ist der Status des einzelnen Angestellten alles andere als klar. Wer der Chef ist, ist klar; alle anderen aber stehen mehr oder weniger auf der gleichen Ebene unter ihm. Das ist keine Hierarchie,
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