Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
der Bürger an jede beliebige staatliche Stelle eine Beschwerde schicken durfte, nicht nur an Regierungsstellen, sondern auch an Betriebe. Die angeschriebene Stelle war verpflichtet, innerhalb von vier Wochen zu antworten.«
Es funktionierte auch. Und wenn man ganz sichergehen wollte, dass jemand auf die Eingabe reagierte, schrieb man gleich an Honecker.
Man könnte meinen, dass jede Eingabe, die etwas am System auszusetzen hatte, mit einem Stasi-Besuch beantwortet wurde. »Es gibt schon Beispiele, wo die Leute über Politisches gemeckert hatten«, sagte Staadt. »In den Fällen, in denen man meinte, es handele sich um eine staatsbedrohliche Situation, ging die Eingabe zur Stasi. Das war aber gar nicht so oft. Eher wurde mit Begründungen geantwortet, warum dies oder das nicht funktioniere.«
An den Fürst aller Fürsten, Honecker selbst, wurden rund 120000 Eingaben im Jahr geschrieben. In seinem Buch Teurer Genosse. Briefe an Erich Honecker sammelte Staadt einige der schönsten.
Gerda E. aus Dresden schrieb: »Voller Verärgerung wende ich mich heute an Sie«, und beanstandete verbittert, dass sie keinen Fernseher auf Pump kriege. Rudolph S. aus Hermsdorf maulte lang und breit, dass er seit zehn Jahren keinen Telefonanschluss bekomme. Daraufhin hat Honecker selbst eingegriffen und die zuständigen Behörden dazu gebracht, dem Herrn S. endlich einen Anschluss zu versprechen. Was auch passierte. Danach allerdings passierte nichts mehr.
Nur wenige Eingabeverfasser trauten sich, um eine Ausreiseerlaubnis zu bitten. Dafür gab es einige Eingaben von ausgewanderten DDR-Bürgern im Westen, die untertänigst darum baten, wieder reingelassen zu werden. So schrieb reuevoll F. S. aus Lünen: »Nachdem ich den Egoismus der westlichen Welt kennengelernt habe, wäre mein größter Wunsch, wieder heimzukehren.« S. W. aus Wuppertal schrieb, »Wir bereuen unseren Schritt auf das Tiefste und bitten inständig, wieder in die DDR zurückkehren zu dürfen.« Sogar waschechte BRDler richteten Eingaben an Honecker. Zum Beispiel schrieb B. aus Bad Homburg, er sei »mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in der BRD nicht zufrieden«, aber »… in der DDR werden den Bürgern alle Rechte gegeben sowie das Recht auf Arbeit und Erholung, und ich würde gerne meine ganze Kraft für den weiteren Aufbau dieses Staates einsetzen.«
In den späten 80ern, unter dem Eindruck von Glasnost weiter im Osten, trafen mit zunehmender Häufigkeit Eingaben ein, in denen – anonym oder sogar offen – die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse ausgiebig moniert wurden. Aber selbst diese Beschwerden bedienten sich eines wunderbar höflichen Tons, wie es sich auch gehört, wenn man sich an die da oben wendet.
Das ist einer der großen Vorteile einer feudalistischen Beziehung zwischen Obrigkeit und Untertan: Der Untertan lernt verdammt schnell, sich gewählt auszudrücken. Da ist nichts mit »Scheiße-dies« und »Verdammt nochmal Kacke-das«. Nein, wer an Honecker herumzukritteln hatte, tat dies in einem vorbildlich anhimmelnden Ton.
Allein in einem einzigen, etwa zweiseitigen Brief, den ein gewisser Hermann T. aus Wilsdruff 1987 schrieb, um seinem Ärger über den Bauarbeitermangel auf dem Land Luft zu machen, weil diese komplett nach Berlin (Ost) abgezogen wurden, um dort die 750-Jahre-Berlin-Feier vorzubereiten, finden sich insgesamt 16 Höflichkeitsformeln und Staatstreuebeteuerungen. Eine Auswahl:
… aus großer Verantwortung für unsere große und schöne sozialistische Sache …
… als klassenbewusster Genosse …
… uns alle mit Stolz erfüllt, dass die Hauptstadt unseres sozialistischen Staates den sozialistischen Aufbauwillen dokumentiert …
… Beispiel für unser sozialistisches Kulturerbe …
…dass das sozialistische Berlin dem kapitalistischen Westberlin in allen Belangen seine Überlegenheit beweist …
… Berlin schöner denn je wieder aufbaut …
… dieses alles wird verstanden und gebilligt …
… mit dem großartigen und gewaltigen Fest-Umzug durch unsere sozialistische Hauptstadt …
… ich hoffe, dass Sie richtig verstanden haben …
… dem lieben Genossen Erich Honecker noch beste Gesundheit und viel Schaffenskraft …
… mit kommunistischem Gruß …
Zum Glück für Berlin konnten die örtlichen Vertreter der Partei, die anschließend zum höflichen Herrn T. aus Wilsdruff geschickt wurden, ihn noch überzeugen, dass er mit seinen hohen Ansprüchen an das
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