Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
sozialistische Bauwesen im Unrecht war.
Es ist wunderbar, wofür Honecker alles zuständig war, von politischen Missständen bis zum Wunsch, eine neue Badewanne erwerben zu dürfen. Es muss ein wunderbares Gefühl gewesen sein, als erste Anlaufstation für so viele Menschen und so viele Sorgen zu gelten. Und wenn ich ehrlich bin, ich hätte nichts dagegen, wenn ich wüsste: Bekomme ich im Baumarkt keine günstige Badewanne, kann ich Frau Merkel anschreiben, sie wird sich darum kümmern. Ich hätte gern eine so intime Beziehung zu Frau Merkel. Aber ach, diese Tage sind vorbei.
Staadt bezeichnete die Eingabe ebenfalls als »feudal« und verglich sie mit den Petitionen an den alten chinesischen oder russischen Höfen.
»Auch heute noch kann man einen Brief an die Bundeskanzlerin schreiben«, wandte ich ein.
»Das ist aber keine Instanz«, stellte er klar. »Man geht normalerweise über den Rechtsweg und klagt sein Recht ein. Man zwingt die Behörde vor Gericht. Wenn eine Behörde in der DDR eine Genehmigung verweigert hatte, konnte man aber nicht zivilrechtlich dagegen vorgehen. Dass man sich stattdessen an eine Einzelperson wandte, die nach Belieben handelt, das ist ein Verfahren zwischen Untertan und Herrschaft. Man ist mit dem Verwaltungsträger nicht auf gleicher Augenhöhe.«
Die DDR hatte überhaupt eine aufgeklärte, bejahende Einstellung zur Kritik. Die politischen Autoritäten glaubten zum Beispiel, dass der Bürger, wenn er schon eine offizielle Erlaubnis hat, den Staat anzumeckern, doch auch die Möglichkeit bekommen müsse, ebenso bekrittelt zu werden. Gerecht ist gerecht. Und weil der Staat dem Einzelnen nun wirklich nicht alles abnehmen konnte, befahl er, dass der Einzelne sich selber maßregelt. Das nannte man »Selbstkritik«.
»Selbstkritik in der SED war ein Ritual der Unterwerfung und Demütigung«, erklärte mir Stefan Wolle, den ich telefonisch im DDR-Museum Berlin erreichte. Er hat das Buch Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR1971–1989 geschrieben. »Sie war in der stalinistischen Zeit sehr wichtig und hatte in der DDR lange Zeit zentrale Bedeutung auf Betriebs- und Parteiversammlungen. Zuerst wurde Kritik an den Umständen oder an einzelnen Mitgliedern geübt, auch an der Führungsschicht. Dann gehörte aber dazu, dass der Kritiker gleich danach auch Selbstkritik äußerte«.
Wer gern nörgelte, war in der DDR gut aufgehoben. Man konnte sich seinen wildesten Nörgel-Phantasien hingeben.
»Nehmen wir an, dass ein Student in einer Studiengruppe an der Uni der intellektuellen Arroganz angeklagt wird: Er erhebe sich über das Kollektiv und glaube, er sei klüger als die anderen«, gab Wolle mir ein Beispiel. »Wenn der sich hinstellen und sagen würde: ›Na und? Wo steht, dass ich nicht arrogant sein darf?‹, dann wäre das genau der Beweis gewesen, dass er arrogant ist. Je besser man sich verteidigte, desto schlechter war es für einen selbst. Deshalb war es in dieser Situation schlau, zu sagen: ›Ja, ich habe Relikte einer bürgerlichen Denkweise, das hängt mit meiner Familie zusammen und mit meiner Herkunft, ich stamme nicht aus der Arbeiterklasse und muss das noch überwinden.‹ Die Selbstkritik musste am besten den ursprünglichen Vorwurf noch übertreffen: ›Ich bin noch schlechter als ihr denkt, es ist ganz fürchterlich um mich bestellt, aber mit eurer Hilfe werde ich es schaffen.‹ Dann ging es in die dritte Phase: ›Es gibt aber auch welche hier, die noch schlimmer sind als ich. Die machen spöttische Bemerkungen über das Kollektiv, wenn keiner zuhört und gucken heimlich Westfernsehen.‹ Das ist das Grundmuster gewesen.«
Eine Erfindung der DDR war die Selbstkritik aber nicht.
»Es stammt aus der frühen Zeit der Partei in Russland, als sie noch von der Obrigkeit verfolgt wurde«, sagte Wolle. »Totalitäre Systeme brauchen immer den inneren Feind. Das ist eine Art gesellschaftlicher Kitt. Potentiell kann jeder ein Feind sein, potentiell hat jeder feindliche Gedanken. Wenn zwei Menschen einander vertrauten, ist das für die Diktatur bereits eine Gefahr. Der innere Feind ist ganz wichtig zur Erklärung solcher Systeme. Im mittelalterlichen Weltbild war das der Teufel. Er verführte vor allem junge Menschen zu schlechten Taten. Um die Angst ständig zu erneuern, brauchte man diese Rituale der Selbstkritik.«
In der Bundesrepublik ging man einen anderen Weg. Adenauer & Co. konnten es ja selbstverständlich der DDR nicht gleichtun. Also machten
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