Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
negativer wie sonst üblich, kein »Ausländer raus!«, »Enteignet die Feinde des Volkes«, auch nicht »Keine Macht für Niemand!« Das Nörgelmotto der Revolution war: »Wir sind das Volk.«
Solch eine positive Nörgelei hatten Honecker & Co. wirklich nicht erwartet. Was konnten sie dagegen tun? Hier wurde eindeutig bemängelt, dass der Staat irgendwie was falsch machte. Es war aber so formuliert, dass man wirklich niemandem unterstellen konnte, er sei konterrevolutionär. Die DDRler waren lange daran gewöhnt, zwischen den Zeilen zu nörgeln, aber hier gab es nur eine einzige Zeile – und bei nur einer Zeile auch noch zwischen den Zeilen nörgeln, das ist schon eine Leistung. Honecker & Co. waren selbst gewiefte Besserwisser – gegen eine herkömmliche Quengelei hätten sie was unternehmen können. Aber das?
Sie waren einfach perplex. Als »das Volk« sie dann vom Thron stieß, suchten sie immer noch nach Worten.
Aber glauben Sie nicht, dass politische Nörgelei nur zu Umstürzen, ungehemmter Anarchie und schierem Chaos taugt. Weit gefehlt! In manchen Ländern stellt es das Fundament für das gesamte politische System.
10 . Systemkritik mit System
Wie die Deutschen die perfekte Gesellschaft erquengeln
Es ist und bleibt ein Rätsel: Die Deutschen und ihr Staat.
Blickt man zurück, kommt man nicht umhin festzustellen, dass sie heute wie Hans im Glück leben: einem langen, engstirnigen, grausamen Mittelalter knapp entronnen, wurde das Land vom Dreißigjährigen Krieg zerfleischt, in bedeutungslose Flecken aufgesplittert und vom Rest der Welt überholt und ignoriert, versank in Miefig-, Piefig-, Triefigkeit, probierte es mit dumpfen, nutzlosen Kaisern, unfähigen Möchtegern-Demokraten in der Weimarer Republik, mordlüsternen Nazis und hinterwäldlerischen Kommunisten, Krieg und noch mal Krieg. Mit anderen Worten, alles nicht so doll.
Dann, auf einmal, mit der Erfindung des Grundgesetzes, war wie ein Wunder ein stabiler, erfolgreicher, von Privilegien und Freiheiten überhäufter Staat da, ohne dass man wirklich wusste, wie das plötzlich kam. Und seitdem leben die Deutschen in dem besten Staat, den sie jemals hatten, auf dem absoluten, völlig unerwarteten Höhepunkt ihrer Geschichte – einem Staat, der, blickt man auf die Geschichte zurück, gar nicht besser vorstellbar ist.
Doch fragt man die Deutschen selbst über ihren Staat aus, was bekommt man zu hören?
»Schlimmer kann es hierzulande nicht mehr werden.«
Ist es Understatement? Koketterie? Ennui?
Selbst wenn in diesem Land ein echtes Wunder passiert, ein gewaltiger Schritt Richtung moderne Welt getan wird, etwas, was niemand kritisieren könnte, schaffen es die Deutschen, das so lange zu verschweigen, bis das Wunder Alltag geworden ist und keiner es mehr bemerkt. Und am Alltag darf man ja getrost wieder rumkritteln.
Als mit Barack Obama der erste schwarze Präsident der USA gewählt wurde, flippte die ganze Welt aus: Es war ein Wunder. Noch im Jahre 2005 war Deutschland laut eigener Aussage ein Land der Boy-Clubs, ein Macho-Land, wo Frauen immer noch weniger Lohn für die gleiche Arbeit bekamen und aus den Chefetagen so gut wie verbannt waren. Ein Hinterland also, was Emanzipation anging. Ach, und was die Ostdeutschen betraf: Die Wiedervereinigung war noch ganz frisch, und die Ossis, wie man sie liebevoll nannte, waren im Westen bereits als faule, ziellose Jammerlappen verschrien, die sich zu nichts aufraffen konnten.
Und zack, schon wurde mit Angela Merkel die erste Frau und die erste Ossi zur Bundeskanzlerin gewählt: zwei Wunder in einem. Auf einen Schlag hatten die Deutschen alle Vorurteile gegen sich selbst widerlegt: Ja, eine Frau kann in diesem Land etwas werden; nein, die Ossis sind keine Schluffis; ja, es ist möglich, hierzulande Großes zu erreichen und von der ganzen Welt mit Bewunderung angesehen zu werden.
Wie haben die Deutschen reagiert?
Gar nicht. Es wurde mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Man hat den Jahrhundertwahlsieg genauso skeptisch kommentiert wie immer: Die neue Bundeskanzlerin sei gesichtslos, sie hätte keinen Plan und es sowieso nur so weit gebracht, weil sie innerhalb der Partei gut manövrieren konnte, nein, mit dieser Wahl hätte man wieder mal eine echte Chance vertan. Selbst die Frauen, die ich kannte, rollten nur mit den Augen und sagten: »Noch vier Jahre Kohl mit anderen Nasen.«
Es war, als ob man das zweifache Wunder nicht feiern dürfte. Selbst Angela Merkel hat den Moment nicht
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