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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Vierundzwanzigsten, alte Nuss.»
    Er hatte es völlig vergessen. Wie
hatte
er es vergessen können? Er spulte die letzten achtundvierzig Stunden durch – Arbeit in Pegelowas Laden, der Abend bei Julia, wieder Arbeit im Rausch nervöser Schlaflosigkeit, dann ein Erschöpfungsschlaf von gestern Abend bis jetzt.
    «Was ist denn, warum – du weinst ja!»
    «Keine Ahnung», brachte er heraus und drückte so fest mit Daumen und Zeigefinger auf die Tränendrüsen, dass das Wasser ihm an den Fingern hinabrann. Jetzt war hoffentlich alles draußen. «Ist das für mich?» Er nahm das Geschenk und wog es in der Hand. «Danke, Katja.»
    «Den Kuchen hat Simone gemacht.»
    «Wir haben ihn zusammen gebacken», korrigierte Simone. Sie hatte ihm bis jetzt zu jedem Geburtstag einen Kuchen gebacken und jedes Mal betont, dass Katjuscha ihr geholfen habe, obwohl alle drei wussten, dass Katjuscha Mehl von Zucker nicht unterscheiden konnte.
    «Wir essen ihn später, okay? Ich muss noch schlafen. Nacht.» Er schlich in sein Zimmer zurück, und zum Glück hielt ihn Katjuscha diesmal nicht auf.
    Er schloss die Tür und glitt auf den Boden.
    24 .
    Die meisten Unfälle passierten zu Hause.
    Er könnte sich am Kuchen verschlucken. Fast musste er lächeln über die Ironie dieser Situation – aber obwohl das Verschlucken an Nahrung eine sehr häufige Todesursache war, betraf sie fast nur Kleinkinder und sehr alte Menschen. Auch in der Dusche auszurutschen war für sein Alter und seinen körperlichen Zustand eher unwahrscheinlich. Ein elektrischer Schlag, wenn er eine Glühbirne auswechselte. Schon eher möglich.
    Und wenn er die Wohnung verließ … dann könnte alles Mögliche passieren.
    Er starrte in seine Handflächen. Oder auch ganz ohne die Beihilfe von Pech und Zufall, indem er es selbst in die Hand nahm.
    Der Gedanke glitt nur so an ihm vorbei, eine Erkenntnis ohne Wertung und Gewicht. Ernsthaft hatte er Selbstmord nie in Erwägung gezogen. Nie ernsthaft. Selbst als er im Badezimmer gestanden und die Rasierklinge im Spiegel beobachtet hatte, die seinen Unterarm im Spiegel auftrennte wie eine Farbtube, aus der Rosen purzelten, wahnwitzig rot, selbst da hatte er nicht geglaubt, seinen Tod mit vierundzwanzig, fünf Jahre später, so einfach entgehen zu können. Mit einem läppischen Schnitt.
     
    Wann er sterben würde, hatte er nicht immer gewusst. Zum ersten Mal bewusst geworden war es ihm mit sieben, als ihn seine Therapeutin gefragt hatte, was er einmal werden wollte.
    «Ich werde tot sein. Davor bleib ich so wie jetzt.»
    «Das stimmt, jeder stirbt eines Tages. Aber das ist noch lange hin. Was möchtest du sein, wenn du erwachsen bist?»
    «Ich bin tot, wenn ich so alt bin wie du, als du keine Mama sein wolltest. Da warst du vierundzwanzig, und mit vierundzwanzig bin ich tot.»
    Seine Therapeutin schwieg, aber anders als sonst ohne ihr unerschütterliches Lächeln; jetzt sah es aus, als wäre die Zeit in ihren wässrigen Augen stehengeblieben.
    Danach musste Katjuscha zu einer Besprechung kommen, und er sollte wiederholen, was er gesagt hatte. Doch er ahnte, dass Katjuscha nichts davon wissen durfte; es würde sie sehr traurig machen, viel trauriger, als es ihn selbst machte, wenn sie erfuhr, dass sie bald älter war, als er jemals sein würde.
    «Sich den eigenen Tod vorzustellen ist in seiner Situation völlig normal», hatte die Therapeutin erklärt. «Nach dem plötzlichen Verlust der Eltern gibt es ihm ein ganz wichtiges Gefühl von Kontrolle, sich gewissermaßen ein Datum für seinen eigenen Tod zu setzen. Mit der Zeit werden diese Vorstellungen abklingen.»
    Aber das taten sie natürlich nicht. Von da an musste er immerzu an seinen Tod denken, wie man es nicht lassen kann, mit der Zunge an einer Wunde im Zahnfleisch zu puhlen, sobald man sie einmal entdeckt hat.
    Er kam in die Schule und begriff, dass niemand sonst das wusste, was er wusste. Sogar seine toten Eltern, die alles beantworten konnten, hatten ihren Tod nicht kommen sehen.
Sein Vater hatte nicht geschrien. Wie er mit beiden Händen das Lenkrad umklammert hatte, beinahe gefasst. Fast vorbereitet –
     
    Es klopfte. Er rappelte sich auf, als die Tür geöffnet wurde und Katjuscha sich ins Zimmer schob. Sie standen sich mit einem Mal sehr nah gegenüber, was durch seine spärliche Bekleidung und die Dunkelheit eine etwas unangenehme Situation erzeugte.
    «Was ist los?», fragte sie im Flüsterton.
    «Nichts, wirklich.» Er glitt zur Seite und ließ sich auf dem

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