Noir
vielleicht seinen Job. Wenn er hinging, womöglich sein Leben. Ein Autounfall, das war am wahrscheinlichsten. Aber es fielen auch nicht selten schwere Gegenstände aus Fenstern und erschlugen Leute.
Am sichersten war er wirklich in diesem Zimmer. Was wäre das für ein Leben? Könnte er ein ganzes Jahr hier ausharren? Und was dann, wenn er das ganze Jahr überlebte? Würde er mit fünfundzwanzig nicht mehr Gefahr laufen, einfach zu sterben?
Aber nein, all diese Überlegungen änderten nichts. Er
wusste
, dass sein Leben mit vierundzwanzig enden würde.
Deine Mutter vermisst dich.
Er stand auf, als hätte ihn eine kalte Hand im Nacken gepackt. Nur um irgendwas zu tun, zog er sich seine Jeans und ein T-Shirt an. Als er angezogen war, merkte er, dass sein Herz raste. Seine Beine wollten sich bewegen, er wollte – wollte wegrennen. Vielleicht würde er so sterben, infolge einer Panikattacke, wie er sie seit Jahren nicht mehr gehabt hatte. Er tastete sich über die Hosentaschen – sein Handy, Kleingeld, der Wohnungsschlüssel waren da. Das Zimmer schien zu einem Grab zusammenzuschrumpfen.
Er öffnete die Wohnungstür und schloss sie hinter sich. Wann war er in seine Schuhe gestiegen? Er trug keine Socken, die Schnürsenkel waren ohne Knoten nach innen gestopft. Er musste sie sich automatisch angezogen haben, ohne dass die Tat eine Spur in seinem Bewusstsein hinterlassen hatte. Zügig, bevor er sich fragen konnte, warum und wohin er ging, lief er die Treppen hinunter, und als er auf der Straße ankam, begann er zu joggen, dann zu rennen.
Er rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her, und die ganze Zeit hüpften ihm die Töne einer lange vergessenen Kindermelodie durch den Kopf.
Anders als erwartet wurde er weder von einem Bus überfahren noch von einem Blumentopf erschlagen, der aus einem Fenster fiel, noch konnte er schnell genug rennen, um ein Herzversagen zu erreichen.
Irgendwann brannten seine Lungen so sehr, dass er stehenbleiben musste, die Hände an die Hauswand presste und um Luft rang. Schwarze und weiße Löcher saugten die Welt vor seinen Augen weg.
Als er wieder halbwegs zu Atem gekommen war, sah er sich um. Er war in einer hässlichen Gegend, wo die Häuser aus ihren Fensterscharten düster auf die Straßen starrten und nur ein paar Spielcasinos den Anschein von Leben erweckten. Aber er wusste ungefähr, wo er war und in welcher Richtung die nächste U-Bahn-Station lag.
Mit schlurfenden Schritten machte er sich auf den Weg. In der U-Bahn hatte er ein merkwürdiges Erlebnis: Er stand einfach nur da im buttrigen Licht, hielt sich mit einer Hand an der Stange fest und ließ den Blick über die vertraut wirkenden Fahrgäste schweifen, doch die Situation kam ihm plötzlich derart
real
vor, als hätte er die letzten Stunden, Tage, vielleicht Wochen nur taggeträumt. In Wahrheit war nur eine Minute verstrichen, nur die Fahrzeit von einer Station zur nächsten.
Doch als er ausstieg, verließ ihn das merkwürdige Gefühl vollkommenen Wachseins wieder. Er merkte, dass
das
die Realität war, seine Erschöpfung, die vorbeilaufenden Passanten, die er nur schemenhaft wahrnahm, und nicht der kurze Moment der Klarheit in der U-Bahn. Vermutlich nur eine Nachwirkung des STYX .
Er stieg aus und ließ sich weiter durch die Straßen treiben. Alles war ein Déjà-vu, eine Erinnerung … Er bog ein paarmal ab – und blieb plötzlich irritiert stehen, als ihm klarwurde, dass er keineswegs nur umherirrte, sondern von seinen Füßen zielstrebig auf einen Ort zugetragen wurde: Julias Haus. Was in aller Welt wollte er bei Julia? Er zögerte kurz, überlegte umzukehren, entschied sich dann aber anders. Vielleicht musste es so sein.
Als er ihr Haus erreichte und die Treppe zum dritten Stock hinaufstieg, spürte er, wie sehr er sich wünschte, seinen Kopf in ihrem Haar zu versenken, einzutauchen in ihren Duft und alles bei ihr abzulegen, seine Gedanken, sich, das Leben.
Du bist das schönste Grab, das mir einfällt.
Wenn er ihr das sagte, würde sie es als Liebesgeständnis missverstehen?
Er klingelte. Und klingelte wieder, als sich drinnen nichts regte. Wenn Julia nicht da war, würde er es bei ihrer Mitbewohnerin versuchen. Plüschpantoffeln hin oder her. Schließlich hörte er Schritte im Flur, und Julia öffnete die Tür.
Für einen Moment schien sie erschrocken, weil sie völlig ungeschminkt war. Für einen Moment erschrak er sogar selbst. Sie wirkte wie eine ausgeblichene, farblose Ausgabe der Julia, die er
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