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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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gutgelaunt setzten sie sich rings um das beschriftete Blatt Papier.
    «Man muss ein Blutopfer bringen», erklärte River und zog eine Rasierklinge aus dem Portemonnaie. Er ritzte sich den Zeigefinger und legte ihn auf das Schnapsglas, das über das Papier gleiten sollte. Das Cover des Modebuchs schimmerte leicht hindurch. Philip nahm die Klinge nach ihm, dann schnitt sich Julia in den Finger. Nino benutzte lieber sein Taschenmesser. Mit zusammengebissenen Zähnen presste er die blutende Fingerkuppe neben die anderen auf das Glas.
    «Und wen rufen wir jetzt an, den Teufel?»
    Ohne auf den Spott einzugehen oder Nino auch nur anzusehen, erklärte River: «Eine Macht aus dem Jenseits wird sich in den Bewegungen des Glases materialisieren und mit uns kommunizieren. Für die Dauer der Beschwörung wird die Macht einen Namen haben und sich wie ein individuelles Wesen verhalten, allerdings existiert diese Individualität nur in unserem Diesseits. Sobald wir die Beschwörung beenden, kehrt die Macht ins Jenseits zurück.» Er zog geräuschvoll die Nase hoch. «Niemand nimmt den Finger vom Glas, sonst ist der Bannkreis gebrochen. Dann kann die gerufene Energie womöglich auch nicht mehr ins Jenseits zurückkehren.» Er legte ein bedeutsames Schweigen ein, das er sich vermutlich von Monsieur Samedi abgeguckt hatte wie alles andere. «Gut. Jetzt versuchen wir synchron zu atmen. Tief ein und wieder aus. Denkt an nichts. Versucht euch leer zu machen. Jeder von uns hat eine Verbindung zum Jenseits in sich, lasst sie zu. Wir atmen gleichzeitig.»
    Sie beobachteten einander. Nino hätte erwartet, wenigstens ein unterdrücktes Lächeln auf Philips oder Julias Gesicht zu entdecken, aber beide waren todernst. Blutstropfen rannen am Glas herab auf das komplizierte Zeichen in der Mitte des Papiers.
    «Wir rufen dich», murmelte River kaum hörbar. «Nimm unser Blutopfer an. Die Klinge hat unsere Körper geöffnet. Unser Geist öffnet dir unsere Welt. Wir rufen dich.»
    Sie atmeten. Ein gehässiges Lachen lauerte in Nino, doch er hütete sich, das Geschehen zu unterbrechen. Er würde den anderen keinen Anlass geben, die Schuld auf ihn zu schieben, wenn nichts geschah. Nein, dafür sollte River schön allein verantwortlich sein.
    «Lasst uns von zehn bis null zählen. Stellt euch vor, wie ihr euch immer weiter dem Jenseits öffnet, als würden wir mit jeder Zahl eine Stufe tiefer in uns hinabsteigen.»
    «Zehn», sagten sie, nicht gerade gleichzeitig, und dann im Chor: «neun … acht … sieben … sechs …» Als sie bei eins ankamen, begann River wieder bei neun. «… acht … sieben … sechs …»
    Nino stieg eine angenehme Wärme die Wirbelsäule hinauf. In seinem Nacken begann sie sich zu sammeln, hielt seinen Kopf wie eine unsichtbare Hand.
    «… vier … drei …»
    Das Glas glitt auf einen Buchstaben zu. Alle verstummten.
    Nino starrte auf die Finger der anderen, aber soweit er es beurteilen konnte, lag keiner mit mehr Druck auf dem Glas als sein eigener. Es hörte nicht auf, sich zu bewegen. Unbeirrt zog es von einem Buchstaben auf dem Blatt zum nächsten.
    «Merkt euch die Buchstaben», zischte River. «C-O-N-S-T-A-N-T-I-N-O-M-I-O-F-I-G-L-I-O.»
    Nach dem letzten Buchstaben kehrte das Glas in die Mitte zurück und kreiste noch zweimal um das Symbol, ehe es ebenso abrupt, wie es sich in Bewegung gesetzt hatte, wieder zum Stillstand kam.
    «Was hat das jetzt bedeutet?», flüsterte Julia atemlos.
    River begann die Silben vor sich hin zu murmeln.
Con…stan…ti…no
. Nino bekam den Mund nicht auf. Es konnte … aber wie konnte …? Seinen Geburtsnamen kannte doch niemand. Hatte er Philip jemals seinen Ausweis gezeigt? Wäre er fähig zu einem so geschmacklosen Streich?
    Doch es war der Rest der Botschaft, der ihn noch viel mehr erschreckte.
    «Miofiglio», murmelte River.
    «Wer von euch kann Italienisch?», fragte Nino tonlos.
    «Stimmt, das klingt italienisch», sagte Julia.
    «Das
ist
italienisch.» Nino sah auf. Falls Philip dahintersteckte, konnte er verdammt gut schauspielern.
Mein Sohn. Es heißt: mein Sohn.
    Das Glas setzte sich ruckartig wieder in Bewegung, zog Blutspuren über das Papier, glitt hektisch von Buchstabe zu Buchstabe. Mit bebender Stimme sprach River mit: «T-U-A-M-A-D-R-E-T-I-M-A-N-C-A.»
    Nino spürte, wie ein Kältestrahl durch seinen Körper schoss. Er hatte kein Italienisch gehört seit dem Sizilienurlaub, den Katjuscha und ihre Mutter vor vierzehn Jahren mit ihm unternommen hatten, und

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