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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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im Wachstum – nicht körperlich natürlich, sondern seelisch.
    Ihr sitzt im Ersatzbus, der euch zum nächsten Bahnhof bringen soll. Die Autobahn dehnt sich vor und hinter euch aus, ein trostloser Fluss, in dem Autos wie Müll von einem Nirgendwo ins andere treiben. Ich kann nicht aufhören, in allem Bilder zu erkennen.
    Der Himmel ist so voller Wolken, dass er leer aussieht. Am Wimpernrand spürst du eine gestochen verschwommene Sonne, verdampfend von hell zu weiß und nichts.
    Manchmal fahrt ihr an Raststätten oder Ortschaften vorbei, aber meistens umgeben euch nur Felder, Wald. Im Wald haben wir uns in der ersten Nacht unserer Flucht versteckt, als wir noch das Auto hatten. Ich denke daran zurück und möchte die Erinnerung mit Noir teilen, aber sie träumt ja gerade von ihren eigenen Erinnerungen. Trotzdem spricht ein Teil von mir mit ihr, und wer weiß, vielleicht hörst du mich doch, Noir, wo auch immer du gerade steckst.
    Ihre Hand liegt schlaff auf meinem Schoß, während sie von ihrer Vergangenheit träumt; ihre Hand kommt mir vor wie ein kleines, unabhängiges Tier mit vier Beinchen und einem Stummelkopf, das auf meinem Schoß verdurstet ist. Armes Tierchen. Ich streichle ihre Finger, und auch meine eigene Hand wirkt fremd, ein zweites Tier, das den Tod beschnuppert.
    Überall sind Bilder. Nichts ist nur das, was es zu sein scheint. Alles ist nur ein Bild von einem Bild eines Bildes .
    Rings um uns im Bus tuscheln und reden die Leute.
    Wenn man glücklich ist, braucht man keine Worte.
    Die Menschen sprechen alle Sprachen auf einmal, bis kein Wort mehr herauszuhören ist.

[zur Inhaltsübersicht]
9 .
    N ino! Nino, alles klar?»
    Er nahm den verstörten Ausdruck auf Simones Gesicht wahr, die im Wohnzimmer auftauchte, bevor ihm klar wurde, dass Katjuscha direkt vor ihm stand und nicht weniger ratlos dreinblickte. Er blinzelte. Wie Puzzlestücke fiel die Gegenwart wieder in ihr Gefüge – er stand in der Küche, er trug Boxershorts, auf dem Tisch stand ein Apfelkuchen, der aussah wie aus einer Kochsendung oder einem Zeichentrickfilm, zu perfekt für die Wirklichkeit dieser Wohnung; und neben dem Kuchen ein kleines Geschenk, das in das Weihnachtspapier verpackt war, das er und Katjuscha für alle Geschenke verwendeten, weil es das einzige war, das sie hatten.
    «Geht’s dir gut?», fragte Katjuscha.
    Endlich begriff er, was sie meinte. Natürlich, das Glas. Er hatte sich ein Glas Leitungswasser holen wollen und den Kuchen und das Geschenk entdeckt. Jetzt lag das Glas in hundert feuchten Scherben auf dem Küchenfußboden.
    Er schüttelte den Kopf, als könnte er sein Hirn damit wieder anwerfen.
    Ein Glas fallen lassen. Was für ein Klischee. Er bückte sich und sammelte die Scherben mit der Hand auf.
    «Lass», murmelte Katjuscha und holte den Handbesen unter der Spüle hervor. «Mach das nicht mit den Händen.» Sie schob ihn beiseite, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich auf einen der Küchenstühle sinken zu lassen und zuzusehen, wie sie die Scherben klirrend zu einem Häuflein zusammenfegte.
    Simone trat in den Türrahmen und strich sich ein Sweatshirt – Katjuschas Sweatshirt – über den Hüften glatt.
    «Alles Gute zum Geburtstag, Nino», sagte sie. In demselben Tonfall telefonierte sie wahrscheinlich mit dem Finanzamt. Er nahm es ihr nicht übel, immerhin hatte er sie um fünf Uhr morgens mit seiner Tollpatschigkeit aufgeweckt.
    «Danke.» Er blickte zum Fenster, weil es ihn beschämte, Katjuscha tatenlos zusehen zu müssen. Aber er wusste, dass sie seine Hilfe nicht annehmen würde. So war sie nun mal. Verdammte ihn immer dazu, die Rolle des minderbemittelten Kindes zu spielen. Simone hingegen durfte das Wasser mit Küchenpapier aufwischen. Und demonstrativ
gähnen
.
    Draußen brach ein strahlender Tag an. Dieses Jahr hatten sie einen besonders schönen Herbst. Besonders sonnig. Manche Jahre waren menschenfreundlicher als andere … Er spürte, dass unter diesen seichten Überlegungen ganz andere, schwerere mitschwammen, und trotzdem erschrak er, als ihm unvermittelt Tränen in die Augen stiegen.
    Er stand auf, fuhr sich durch die Haare und dabei unauffällig, wie er hoffte, über die Augen. «Tut mir leid, ich wollte euch nicht wecken, ich –»
    «Alles gut», sagte Katjuscha. Verdammt. Sie ahnte, dass etwas nicht stimmte.
    «Ich geh wieder ins Bett … Entschuldigung.»
    Als er sich umdrehte, hielt Katjuscha ihn fest und zog ihn in ihre Arme. «Alles Gute zum

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