Noir
doch verstand er jetzt die Worte, als hätten sie all die Zeit in ihm gewartet.
«Was heißt das?», fragte Julia.
Deine –
Es war unmöglich.
Unmöglich. Immer wieder schüttelte er den Kopf, es konnte nicht sein. Das war zu einfach. Ein Blatt Papier, um die Existenz des Jenseits zu beweisen, um die Existenz seiner
toten Mutter
zu beweisen – so leicht konnte es nicht sein.
River leckte sich über die Lippen. «Wer bist du?»
Scheinbar ruhig löste Nino den Finger vom Glas und stieg vom Bett, dabei bewegte er sich so schnell, wie er konnte. Alles war in Zeitlupe. Sein Herz hämmerte kräftig und tief in ihn hinein, als wollte es ihn am Boden festnageln. River versuchte ihn wieder heranzuziehen und fluchte.
Nino lächelte die drei an. Er wusste nicht, woher dieses Lächeln kam, es hatte nichts mit ihm zu tun. Das Glas unter ihren Fingern bewegte sich nicht mehr. Ohne ein Wort herausbringen zu können, verließ er das Zimmer, schwebte den Flur entlang durch die Dunkelheit. Er wollte rennen, wollte die Haustreppe hinunterstürzen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht, bewegte sich gemächlich wie ein herabrollender Tropfen an einer Fensterscheibe. Leise schloss er die Tür hinter sich.
Simones Turnschuhe standen in der Diele, und Katjuschas Tür war nicht angelehnt wie sonst, sondern verschlossen. Er schlich in sein Zimmer, setzte sich auf die Schmutzwäsche zwischen Bett und Schrank und starrte ins Leere.
Ein irrer Trotz hinderte ihn daran, an das zu denken, was ihn so schockierte. Es konnte nicht wirklich passiert sein. Daran zu denken bedeutete bereits, sich seine Wahrhaftigkeit einzugestehen.
Die Erinnerung an seine Mutter war wie eine ausgeblichene Filmrolle, ein Zusammenschnitt ungeordneter Szenen. Jetzt kam ihm ein Bild von ihr in den Sinn, wie sie den Kopf zurückwarf und mit offenem Mund lachte, aber den Klang ihres Lachens hatte er längst vergessen, und vielleicht war das Bild auch nur eine Collage aus Werbeplakaten, die er in seiner frühen Kindheit gesehen hatte. Ihre Stimme war weg, ebenso das Italienisch, das er bis zu seinem fünften Lebensjahr gehört hatte … Das war womöglich das Unheimlichste an allem: nicht das Glas, das sich bewegt hatte, sondern dass er die Botschaft sofort entziffert hatte, als wäre sie ihm ins Hirn implantiert worden. Alles andere konnte ein Trick sein, aber wie hatte er die italienischen Worte verstehen können? Sein Kopf, wie hatte River in
seinen Kopf
…
Eine Weile presste er sich die Fäuste gegen die Schläfen, ohne zu wissen, ob er versuchte, sich so besser zu konzentrieren oder das Nachdenken ganz abzustellen. Befühlte den kleinen Schnitt in seinem Finger. Nur ein Tropfen Blut. Um die Grenze zwischen Leben und Tod zu überwinden. Welche Überraschung, als das dicke, finstere Rot damals aus seinem Unterarm hervorquoll, diese rasende Euphorie. Die Schnitte hätten genügt … er wusste doch bereits, dass die Grenze zwischen Leben und Tod so dünn war wie eine Rasierklinge.
Eine Melodie kam ihm in den Sinn, die Melodie eines Kinderliedes. Er wusste nicht mehr, ob russisch, italienisch oder deutsch, ob von seinem Vater, seiner Mutter, einer Kindergärtnerin oder einem Zeichentrickfilm. Nur ein paar hüpfende Töne, fröhlich-fröhlich-fröhlich! Fröhlich-fröhlich-Schluss! Wie ging der Text dazu? Er wusste nicht mehr, welche Worte darauf passten, und war dankbar, sich eine Weile mit diesem Rätsel beschäftigen zu können.
Der Schock hält mich wach, dachte er. Wenn man nach schlimmen Erlebnissen lange genug wach blieb, verblasste die Erinnerung, weil das Gehirn erst im Schlaf Erlebnisse zu Erinnerungen verarbeitete.
Wollte er denn vergessen? Er atmete tief ein und wieder aus und drückte die Lippen gegen seine Fingerknöchel. Die Fakten, ganz nüchtern betrachtet: Das Glas auf dem Papier hatte sich bewegt. Was auch immer für die Bewegung verantwortlich war, hatte sich als seine tote Mutter ausgegeben.
Ausgegeben
. Es hätte River dahinterstecken können, oder der Teufel. Irgendeine metaphysische Kraft, die das menschliche Begreifen überstieg. War das so schwer zu glauben? Damit hatte er sich doch schon lange abgefunden, mit dem Unerklärlichen. Seine Panik war womöglich übertrieben. Er musste sich nur selbst davon überzeugen.
Aber wenn wirklich seine Mutter … nein, das konnte er einfach nicht annehmen.
Deine Mutter vermisst dich.
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Wie ein Neugeborenes braucht Noir viel Schlaf, denn sie befindet sich
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