Noir
nicht unbemerkt an der Rezeption vorbeischleichen kann. Eine leicht pummelige Frau steht am Tresen. Ich spüre die Worte, die sie von mir erwartet, und spreche sie aus: Ob noch ein Doppelzimmer frei sei. Für zwei Personen. Sagen wir, zwei Nächte.
Wir haben Glück, behauptet die Rezeptionsleiterin, es sei noch ein Zimmer frei. Ich werfe einen Blick in das kleine Büro hinter ihr. Auf die staubüberzogenen Plastikblumen neben dem altertümlichen Computer. Das Hotel hat drei Sterne, aber es wirkt schäbiger.
Sie bittet mich um meinen Personalausweis.
«Sie lassen mich das Formular ausfüllen», sage ich. Sie zögert, dann entspannen sich ihre Gesichtszüge, und sie übergibt mir Stift und Formular. Ich trage als Namen JEAN ORIN ein und erfinde ein Geburtsdatum und eine Schweizer Adresse.
Ich habe mit einer Kreditkarte bezahlt, sage ich.
Ja, sagt die Rezeptionsleiterin und händigt uns einen Schlüssel aus. Frühstück beginnt aus damals die Bibel absolut mein Cousin.
Ich nicke höflich, als hätte sie etwas Sinnvolles gesagt, dabei bin ich erschrocken. Kommt die Verwirrung von meiner Manipulation? Oder habe ich sie einfach nicht richtig verstanden? Egal, der Moment ist verstrichen – verstrichen, als hätte es ihn nie gegeben, und Noir und ich gehen die schmale Treppe hinauf ins zweite Stockwerk, wo sich Zimmer 24 befindet.
Es ist eine Kammer, die fast ausschließlich vom Bett ausgefüllt wird. Am Fenster steht ein winziger Schreibtisch, auf dem gerade mal genug Platz ist für ein Telefon, einen Block mit Bleistift und einen ausgeblichenen Prospekt für Touristen. Das Bad hat Plastikwände und sieht aus wie eine Astronautenkabine.
Noir setzt sich neben mich auf die Bettkante und entfaltet den Prospekt, auf dessen Rückseite eine vereinfachte Karte der Pariser Innenstadt abgebildet ist. Ihr behandschuhter Finger gleitet über die Zeichnungen, als könnte sie fühlen, ob eine Vertrautheit zwischen ihnen besteht.
«Ich muss mehr träumen.»
Ihre Hand fährt zu meinem Oberschenkel, und ich schließe die Augen. Für eine Sekunde durchzuckt mich heftiger Widerwille. Wieso nehme ich das alles auf mich, wieso ist Noir wichtiger als ich? Wieso soll sie leben, wenn ich sterbe? Aber natürlich gibt es darauf keine Antworten. Ich brauche auch keine. Ich liebe sie nicht, als wäre sie ein Teil von mir, sondern als sei ich ein Teil von ihr.
Noir spürt diese Sekunde der Ablehnung dennoch wie einen Peitschenschlag und weicht vor mir zurück. Ich öffne die Augen, will sie zu mir heranziehen.
«Tut mir leid», stammelt sie. «Ich … es tut mir leid.»
«Nein, nein, nein! Nichts muss dir leidtun. Du sollst dir alles nehmen, alles.»
Aber ich habe sie verschreckt. Ich entkleide uns, damit sie mich spürt. Noir wehrt sich erst, dann umklammert sie mich mit Armen und Beinen. Hände krallen sich schmerzhaft in mein Haar, aber ich bin so voller Liebe, dass ich am Ende nicht mehr weiß, was ich empfinde, nur dass es heftig ist.
Sie schläft ein, ihre Fäuste an meinem Hals, und ich betrachte ihre nackten Fingernägel. Sie sind abgekaut, so wie meine Daumennägel. Ich frage mich, was für ein Mädchen sie einmal war und wie unsere Beziehung unter anderen Umständen hätte aussehen können. Aber an dieser Vorstellung hängen so viele klirrende Wenns, dass wir beide gar nicht mehr wir selbst wären und sie deshalb an Relevanz verliert.
Ich merke, dass ich unter der Betäubung sehr hungrig bin, und verliere mich in einer leichten Bewusstlosigkeit.
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16 .
D ieses Mal hatte Nino keine Einwände, als Itsi vor Beginn des Spiels das STYX auspackte. Jeder genehmigte sich eine Portion. Es stimmte wirklich, mit der Droge war das Gläserrücken weniger beängstigend, vor allem zum Schluss, wenn jene fremde Macht wieder verschwand, die ihnen für die Dauer der Séance wie ein warmer Kuss im Nacken saß. Als Nino das Pulver durch die Nase zog, wollte er aber auch die Begegnung mit Monsieur Samedis merkwürdigem Drogendealer ausblenden. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, darüber nachzudenken, dass Monsieur Samedi ihnen eine
Gefälligkeit
erweisen wollte,
früher oder später
.
Als sie das Symbol abgemalt und einen Tropfen Blut gespendet hatten, setzte sich das Glas beinahe sofort in Bewegung, als wäre es ein elektronisches Gerät, für das sie eine Steckdose gefunden hatten.
Das Gefühl war unbeschreiblich. Die Macht, die das Glas bewegte, schloss Nino in ihre Arme, hielt sein Innerstes, löschte die
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