Noir
Schnörkel sprossen.
«Eigentlich warten unsere beiden Freunde auf uns. Wir wollten zusammen spielen», sagte Nino, der unter keinen Umständen mit dem merkwürdigen Kerl eine Séance abhalten wollte.
Der Filzstift quietschte über den Boden, als Amor aufblickte. «Ihre beiden Freunde? Julia, und wer ist der andere? River? Ich dachte, er ist beleidigt, dass Julia für alle außer ihn zugänglich ist.» Er starrte abwechselnd Philip und Nino in die Augen, als liefen dort zwei stummgeschaltete Filme ab. Schließlich lächelte er und ließ sich auf die Fersen zurücksinken. «River hat davon erzählt. Von seinen gescheiterten Annäherungsversuchen bei Ihrer Freundin Julia. Frustriert zog er von dannen! Schade, wo das Gläserrücken bei Ihnen doch so wunderbar zu funktionieren scheint. Er verpasst mehr als nur ein romantisches Abenteuer. Nun, wer ist jetzt der vierte Spieler?»
«Ein Freund. Warum?», fragte Nino.
Amor richtete sich auf und zog an seiner Zigarette, die schon fast abgebrannt war. Den Filzstift warf er in die Luft und fing ihn auf, warf und fing ihn, ohne hinzusehen.
«Freunde soll man nicht warten lassen», sagte er schließlich. «Hier.» Er ging hinter den Tisch, zog eine Schublade auf und überreichte Philip einen schwarzen Zettel. Dasselbe Symbol war darauf abgebildet, das Amor auf den Fußboden gemalt hatte.
«Zwanzig Euro. Bitte.» Als Philip ihm den Schein gab, ließ er ihn achtlos in die Schublade fallen. «Danke. Viel Vergnügen.»
«Danke auch für die Einladung. Wenn wir gewusst hätten, dann …»
Amor machte eine entschiedene Geste, um Philip zum Verstummen zu bringen. «Verschoben, nicht aufgehoben. Wenn Monsieur Samedi jemandem eine Gefälligkeit erweisen will, tut er das auch. Früher oder später.»
«Gut. Dann … auf Wiedersehen.»
«Wiedersehen», murmelte Nino.
Sie drehten sich um und gingen auf die Tür zu. Doch als Philip die Klinke herunterdrückte, war sie abgesperrt.
«Ihr müsst klopfen», sagte Amor hinter ihnen.
Philip gehorchte. Als Nino einen Blick zurückwarf, war Monsieur Samedis Handlanger verschwunden – da waren der Schreibtisch, der kaputte Sessel, der flimmernde Laptop – aber keine Spur von Amor. Ein Rauchfaden stieg aus dem Aschenbecher, wo die zerdrückte Kippe lag.
Nino packte Philips Schulter.
«Was?»
Die Tür ging auf, und der Zeitungsmann erschien.
Als Nino Philip an beiden Schultern herumdrehte, saß Amor plötzlich wieder im Sessel, die Füße auf dem Tisch, und zog an einer neu angezündeten Zigarette. Der Film lief in voller Lautstärke. Jemand kreischte in einer undefinierbaren Sprache, und zum ersten Mal kam Nino der Gedanke, dass es vielleicht kein Spielfilm war, sondern eine echte Aufnahme.
«Jetzt komm», zischte Philip.
Er war zu verdattert, um ein Wort herauszubringen. Er hatte sich das nicht eingebildet, der Sessel war leer gewesen. Hatte Amor sich unter dem Tisch versteckt? Aber so schnell, ohne ein Geräusch, das war unmöglich … Und warum sollte er auch? Mit weichen Knien folgte Nino Philip aus der Halle, vorbei am Zeitungsmann und die feuchten Stufen hinab nach draußen, wo es bereits Nacht wurde.
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JETZT
Wir verlassen die Autobahn und werden vom Verkehr aufgenommen, der sich wie ein Strudel nach innen hin verdickt. Der Fahrer findet seinen Verstand wieder – wo sind wir denn hier? Was soll denn – aber wo – und ich wende mich an Noir, die apathisch an meiner Schulter lehnt.
«Wohin jetzt, weißt du das?»
Sie schüttelt den Kopf. Alles kommt ihr bekannt vor, aber sie misstraut dem Gefühl. «Ich weiß nicht, wo mein Haus stehen könnte.» Sie atmet gepresst aus. «Lass uns irgendwo bleiben. Dann schauen wir auf einen Stadtplan.»
Ich sehe aus dem Fenster. Werbeplakate auf Französisch rauschen vorbei. Davon verstehe ich nichts. Ich verstehe die Sprache nur, wenn sie aus einem Menschen kommt.
Dass es mir jetzt genauso geht wie Jean Orin, dass ich unfreiwillig in seine Rolle hineingleite, bereitet mir fast Ekel. Ich drücke Noir und versuche mich daran zu erinnern, dass ich eben nicht wie Jean Orin bin und mich in jeder Hinsicht dagegen gewehrt habe.
Ich entdecke ein kleines Hotel und lasse unseren Fahrer anhalten.
Du bist nach Paris gekommen, um deinen Sohn zu treffen, sage ich zu ihm. Wenn du ihn gefunden hast, fährst du wieder nach Hause. Wenn du ihn nicht findest … dann auch.
Ich zünde ihm noch eine Zigarette an, ehe wir aussteigen.
Das Hotel ist so klein, dass man sich
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