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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Trainingsjacke bis zum Kinn zugezogen. Sie begrüßten sich knapp und gingen auf einen beklemmenden Gebäudekomplex zu, der einen Supermarkt beherbergte, ein paar kleine Ramschläden und mit Satellitenschüsseln verpilzte Wohnungen. Triefende Treppenaufgänge führten zu diesen Wohnungen hinauf.
    Im zweiten Stock begegneten sie einem Mann, der auf den Stufen saß und Zeitung las, obwohl die fettigen Deckenlampen kaum genug Licht spendeten, um einander zu erkennen. Als er sie bemerkte, senkte er die Zeitung.
    «Tag», sagte Philip. «Monsieur Samedi. Wir haben was abzuholen.»
    Der Mann legte die Zeitung beiseite und begann sie ohne ein Wort abzutasten. Als er ihre Handys fand, zog er sie heraus und sagte mit überraschend weicher Stimme: «Ausmachen.»
    Sie gehorchten.
    «Wartet hier.» Er drehte sich um, sperrte eine schwere weiße Tür über der Treppe auf und verschwand dahinter. Nino fiel auf, dass daneben, unauffällig zwischen den Rohrleitungen, eine Kamera installiert war.
    Wenig später öffnete sich die Tür wieder, und der Zeitungsmann erschien. Er hielt ihnen die Tür auf, und sie betraten eine niedrige, längliche Halle. Ein paar Milchglasfenster waren auf Kipp gestellt. Die Luft war feucht und miefig.
    Außer einem Perserteppich, einem Schreibtisch und einem halbzerfetzten Ledersessel gab es keine Möbel. Ein rauchender Mann saß im Sessel, die Füße auf den Tisch gelegt, und sah sich einen Film auf einem Laptop an. Explosionen und fremdsprachiges Gekreische schallten blechern aus den Lautsprechern. Schwer zu sagen, welche Sprache. Vielleicht Hebräisch.
    Der junge Mann jubelte den Filmhelden zu und klatschte in die Hände, und da erkannte Nino ihn wieder – am dumpfen Klatschen. Er trug Lederhandschuhe. Seine rötlichen Haare waren zu einem Zopf zurückgebunden. Er hatte ihn schon einmal in Monsieur Samedis Nähe gesehen, aber das Gesicht kam ihm so nichtssagend vor wie ein weißer Fleck.
    Hinter ihnen fiel die Tür zu, und der Schlüssel wurde im Schloss gedreht.
    «Phantastisch. Spektakulär», sagte der farblose Mann, nahm die Füße vom Tisch und schaltete den Laptop auf lautlos. Die Stille füllte sich langsam mit dem Rauschen des Verkehrs draußen.
    Der farblose Mann zog an seiner Zigarette und zündete sich daran gleich eine neue aus der Brusttasche seiner Lederjacke an, obwohl die erste gerade einmal zur Hälfte aufgeraucht war. Dann öffnete er den Mund zu einem Lächeln und machte eine Geste, als biete er Philip und Nino an, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Da es keine Stühle gab, blieben sie einfach stehen.
    «Womit kann ich dienen?»
    «Wir wollen zu Monsieur Samedi», sagte Nino.
    Philip warf ihm einen tödlichen Blick zu, denn
er
hatte sprechen wollen.
    Der farblose Mann runzelte die Stirn. Das Geflimmer des Films, der stumm weiterlief, tanzte auf seinem Gesicht. «Ich bedauere, heute bin ich Monsieur Samedis Vertretung. Monsieur Samedi hat eine Vertretung von Sonntag bis Freitag. Sie verstehen?» Er zählte an seinen Fingern ab, als müsste er nachrechnen, welcher Tag heute war.
    «Natürlich», sagte Philip. «Ich weiß. Wir haben telefoniert. Philip. Das ist mein Freund Nino, den ich mitbringen sollte.»
    «Ah!» Der farblose Mann inhalierte an beiden Zigaretten gleichzeitig und warf den kürzeren Stummel einfach zur Seite. «Philip, richtig! Der Freund von Rainer Hubrach alias
River
der Chemiker. Und das ist Nino Sorokin! Ihre gemeinsame Freundin heißt Julia alias Luna. Ist das üblich bei Ihnen, sich Künstlernamen zuzulegen? Haben Sie beide auch noch einen zweiten Namen? Lassen Sie mich raten! Philip …
Phantastikus
? Nein,
Marchosias
! Und Nino … Nino heißt eigentlich
Constantino
. Oder
Naberius
!» Er lachte, als hätte er einen besonders hintergründigen Witz gemacht. «Wirklich, das ist interessant, das interessiert mich. Schön, dass Sie gekommen sind!»
    «Wie heißen Sie denn?», fragte Nino irritiert. Es kam ihm falsch vor, jemanden zu siezen, der nicht viel älter sein konnte als er selbst.
    «Oh, ich?» Er legte eine Hand auf die Brust. «Ich bin Amor.»
    Wie zum Beweis legte er den Kopf zurück und zog den Kragen herunter, sodass eine Tätowierung an seinem Hals sichtbar wurde: ein kleiner fetter Engel, der statt Pfeil und Bogen ein Maschinengewehr in den Babyarmen hielt und Herzen Richtung Wange feuerte.
    «Amor», wiederholte er. «Wenn ich mir einen Künstlernamen aussuchen dürfte, würde ich mich aber
Amor
nennen.»
    Nur er lachte darüber.
    Philip

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