Noir
Einsamkeit wie ein ausradierbares Wort. Er konnte den anderen ansehen, dass es ihnen genauso ging.
Sie fragten all die Dinge, die sie sich beim letzten Mal überlegt hatten und an die sie sich noch erinnerten. Doch die Antworten fielen fast immer mehrdeutig aus oder schienen keinen Sinn zu ergeben.
Zum Beispiel als sie wissen wollten, ob es andere Welten neben ihrer gab, schrieb das Glas: ALLES 1 . Oder ob die Zukunft bereits eingetroffen sei und nichts zufällig passierte: ZEIT MACHT SCHICKSAL .
Sie stellten auch weniger bedeutsame Fragen und erfuhren, dass keiner von ihnen jemals berühmt oder Milliardär werden würde, dass Philips und Ninos ehemaliger Kunstprofessor wie vermutet Fußfetischist war, dass Philip in Spanien leben würde und Julia nicht an Lungenkrebs starb. Danach fragte Nino, wann er sterben würde. Wie beim letzten Mal lautete die Antwort 24 . Als er die Todesursache wissen wollte, kam wieder ein merkwürdiges Kauderwelsch zustande, ein NO - AA -R- IR - NO , als kämpften im Glas mehrere Stimmen gegeneinander.
«Sterbe ich innerhalb der nächsten Woche?», fragte er schließlich.
Das Glas zog Kreise. Näherte sich dem J, näherte sich dem N, zog weiter seine Kreise.
«Sterbe ich morgen oder übermorgen?», fragte er erschöpft.
Er schloss die Augen und schluckte trocken.
Bald darauf beschlossen sie, die Séance zu beenden, da das Glas keine sinnvollen Antworten mehr gab, und nahmen noch mehr STYX .
Julia schlug vor auszugehen. Philip stand auf der Gästeliste eines Clubs. Auf dem Weg dorthin kauften sie Wodka und betranken sich innerhalb einer Rekordzeit, die Nino zuletzt mit vierzehn erreicht hatte. Er fühlte sich beinahe wieder wie damals: Alles fühlte sich verboten, ergaunert, auf berauschende Art unrechtmäßig an. Es war ergaunerte Lebenszeit, die er hier im Schnelldurchlauf verprasste.
Sie liefen johlend über doppelspurige Straßen, das Hupen der Autos war Musik, pumpte sie auf mit einem wutgetriebenen, kraftvollen Gefühl von Unzerstörbarkeit, Nino zog Julia in seine Arme und küsste sie, Philip packte sie beide im Nacken und küsste Julia, sie küssten sich alle, ein Taxifahrer brüllte im Vorbeifahren Beschimpfungen, Itsi warf seine Flasche nach dem Auto, und sie mussten schlagartig rennen. An einem Park vorbei, dann quer durch den Park, bis sie vor Lachen nicht mehr konnten, sich Zigaretten anzündeten, und Julia trug wenig später einen Cowboyhut, den sie einer Truppe Männer auf Junggesellenabschiedsparty gemopst hatte, und irgendwie, einem instinktiven Orientierungssinn folgend, erreichten sie den Club, drängten sich an der Schlange vorbei, durch den rot beleuchteten Eingang, und der Türsteher winkte sie herein wie Plankton ins malmende, vor zappelnden Menschen überquellende Maul der Nacht.
Blitzlichtgewitter.
Atemlose Finsternis.
Der metallische Fabriklärm einer Metropolis, die nur im Klang existiert.
Sie sprengt jeden Gedanken aus deinem Kopf.
Sie wogten in der Menge, ihre Kleider waren augenblicklich durchnässt. Wenn er die Arme nach oben ausstreckte und auf die Zehenspitzen stieg, konnte er die moderige Decke dieses umfunktionierten Bunkers berühren. Irgendwo brach Jubel aus, aber der galt nicht der Musik, es war ein Jubelschrei, hier zu sein, vorgedrungen ins zuckende Herz dieser Stadt, die so viele Häute trug und so viele falsche Herzen darunter versteckte.
Eine hohe weibliche Stimme tauchte aus dem Nichts auf, schwebte wie ein Seidenschal über den Hammerschlägen des Beats und sang immer wieder ein Wort, das wie
fallen! fallen!
klang.
Nino ließ die Schultern sinken. Sie waren Tänzer zu tierhaft ehrlichen Klängen, gemacht, sich zu bewegen, zu atmen und ihr Leben sturmgeschüttelt auszuschütten. Musik zwang sie zu fühlen. Zu lieben.
Hinter geschlossenen Augen sah er die Lichter zucken.
Als er aufblickte, erschien für eine Sekunde IHR Gesicht in der Menge.
Finsternis. Ein Sturz ins Weltall.
Licht spritzte in gleißenden Splittern auf sie nieder, und da war sie, wahrhaftig.
Sie hatte sich das Käppi in die Stirn gezogen, aber er erkannte sie trotzdem. Ihren Mund, ihre krumme kleine Nase.
Sie stand an die Wand gelehnt da und tanzte nicht. Langsam, vom hektischen Lichtflimmern durchbrochen, drehte sie den Kopf und erwiderte seinen Blick.
Finsternis löschte sie. Als es eine zehn Jahre lange Sekunde später hell wurde, stand sie nicht mehr da.
Ein Schmerz zog sich durch seinen Bauch, durch sein Herz, verätzte ihm die Kehle. Er fragte sich,
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