Noir
wenn er jetzt sofort hinausstürmte.
Erst um halb elf kamen die Eltern der Mädchen zurück und staunten, sie in ihren Betten vorzufinden. Nino hatte sie dazu überredet, sich die Zähne zu putzen und schlafend zu stellen im Gegenzug dafür, dass er ihnen den Jugendschutz- PIN der Pay- TV -Kanäle verriet.
Eilig verabschiedete er sich von den Eltern, schnappte sich seine Jacke und lief nach draußen. Als er endlich zu Hause ankam, war es nach elf.
«War jemand hier?», fragte er Katjuscha atemlos, die mit einem Post-it-verklebten Buch über die Präraffaeliten und einer 500 -Gramm-Schokoladentafel auf der Couch lag.
Sie schüttelte den Kopf.
«Kein Klingeln?»
«Nein. Wen erwartest du denn?»
Er stützte die Hände in die Seiten, denn er war von der U-Bahn-Station nach Hause gerannt, und atmete tief durch. «Ach, nur Freunde. Egal, sie kommen noch.»
Aber es kam niemand, und lange nach Mitternacht schlief er angezogen auf seinem Bett ein.
Im Traum verschmolz Noir mit dem Nichts. Ihr dunkles Käppi schluckte ihr Gesicht, ihre merkwürdigen Kleider löschten alles aus, was von ihrer Haut zu sehen war, und unsichtbar wie die Luft, die sich in der Wohnung bewegte, drang sie durch die Haustür ein und kam in sein Zimmer. Durch die Augen der Zeichnungen, die seine Wände tapezierten, beobachtete sie ihn.
Die Zeit berührte sie kaum. Minuten und Stunden und Jahre konnten an ihr vorübergehen, ohne sie aus ihrer Starre zu lösen. Aber wenn er sich vorstellte, dass sie unter ihren Schattenkleidern einen Körper hatte, und wenn er daran dachte, dass in diesem Körper ein Herz schlagen musste, warm, klein und kraftvoll, dann zog er sie mit diesen Vorstellungen in seine Wirklichkeit, und dort hatte die Zeit eine Bedeutung. Eine große Bedeutung.
Du kannst mich sehen?
Die Frage schwebte zwischen ihnen, wurde mal von ihm, mal von ihr gestellt.
Ja. Ich bin wach.
Ihr Blick wanderte über seinen Körper, an seiner Hüfte entlang, die Arme hinauf, wo blonde Härchen schimmerten, hinauf zu den Schultern, am Hals vorüber bis zu seinem Gesicht. Sie studierte die leichten Falten auf seiner Stirn. Die Vertiefung zwischen Nase und Oberlippe, über die sein Atem strich. Den Bogen seiner Augenbrauen, glänzend und glatt. Alles an ihm wurde echt durch ihren Blick.
Sie neigte den Kopf, um zu sehen, welche unfertige Zeichnung unter seiner Hand lag. «Sei wach.»
Er erinnerte sich nicht daran, wie er zu sich kam. Plötzlich lag er auf seinem Bett und sah sie im morgendämmrigen Zimmer stehen.
Sie stand da, und er sah sie an, als hätten sie seit Anbeginn der Zeit nichts anderes getan. Als ihm nach einer Ewigkeit oder vielleicht auch nur einer halben Sekunde klar wurde, dass er nicht träumte, stieß er einen erschrockenen Laut aus und fuhr hoch.
Sie machte einen Schritt zur Tür, die einen Spalt offen stand.
«Wie bist du reingekommen?», fragte er, als er endlich sprechen konnte.
Er stellte sich vor, wie sie durchs Treppenhaus stieg, eine Kreditkarte aus ihrer Hosentasche zog und das alte, wackelige Türschloss überlistete. Stellte sich vor, wie sie mit einem Dietrich hantierte, den sie stets im Kofferraum des Maserati aufbewahrte. Oder einfach mit ihren behandschuhten Fingern in den Briefkasten griff und den Ersatzschlüssel herausfischte, den er und Katjuscha dort aufbewahrten.
Die dunklen Augen unter dem Käppi sahen ihn eingehend an. «Monsieur Samedi hat jetzt Zeit für dich.»
«Wie spät ist es überhaupt?»
«Nicht so viel Lärm. Deine Schwester.» Lautlos zog sie die Tür auf und bedeutete ihm, mitzukommen.
Nino nahm sein Handy vom Tisch und schaltete das Display ein. 04 : 44 Uhr. Er musste zweimal hinsehen, um sicher zu sein, dass er sich nicht irrte. Das Licht der Straßenlaterne blendete ihn durchs Fenster. Der Himmel dahinter war steingrau.
Er vernahm ein Knarren in der Diele, steckte sich seine Brieftasche und das Handy in die Hosentaschen, schnappte sich die Jacke und beeilte sich, möglichst leise durch das Wohnzimmer zu schleichen.
Sie wartete vor der offenen Haustür, seine Turnschuhe in der Hand. Als er im Treppenhaus stand, zog sie die Tür hinter ihm zu. Dann gab sie ihm die Schuhe. Hastig schlüpfte er hinein, weil der Boden kalt war und weil er ein Loch in der Socke hatte, das er ihr nicht unbedingt zeigen wollte.
«Stiftet dein Boss dich öfter an, in Wohnungen einzubrechen?»
Sie ging die Stufen hinunter und hielt erst inne, als sie merkte, dass er ihr nicht folgte.
Er lehnte sich
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