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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Kopf zurücksinken. Das Gefühl, das ihre Gegenwart in ihm hervorrief, ließ sich schwer beschreiben. Vielleicht so, als hätte er bisher immer einen Astronautenanzug getragen und sei nun zum ersten Mal in der Lage, jemanden zu berühren.
    «Ich denke nicht unbedingt über Menschen nach. Ich weiß manche Sachen einfach. Dafür kann ich nichts. Bei dir stehe ich vor einer weißen Wand. Ich glaube, dass etwas Wundervolles dahinter ist. Vielleicht auch ein Abgrund. Aber ich kann nichts sehen.»
    «Du siehst in andere Menschen hinein … und bei mir siehst du eine weiße Wand?»
    Lange blickten sie nach vorne, auf die wechselnden Straßen, die kamen und unter ihnen abrissen.
    «Eigentlich mag ich Menschen», sagte er halblaut. «So sehr, dass ich mich selbst vergesse. Ich bin dann ein Spiegel, ein dreidimensionaler Spiegel für andere. Ich mag die Menschen, und deshalb kenne ich sie so gut, das ist das Geheimnis. Aber sie kennen bedeutet mich selbst aufgeben. Bei dir habe ich das Gefühl, dass ich mich nicht verlieren werde. Eher finden.»
    Als sie nur noch wenige hundert Meter von zu Hause entfernt waren, ließ Nino sich in den Sitz sinken und versuchte sich ganz auf den Maserati zu konzentrieren. Das Beschleunigen und Bremsen. Das Vibrieren des Motors. Das Auto reagierte auf ihren Fuß auf den Pedalen, ihre Hände an der Schaltung, dem Lenkrad. Durch das Auto berührte sie ihn am ganzen Körper. Wer hätte gedacht, dass er jemals vorziehen würde, in einem Auto sitzen zu bleiben, als auszusteigen?
    Sie hielt direkt vor seinem Wohnhaus. Eine ältere Dame, die sich aus dem Fenster des Bordells nebenan lehnte, beobachtete sie neugierig.
    Nino öffnete seinen Gurt. «Wie heißt du wirklich?»
    Sie drehte den Kopf und sah ihn direkt an. Er konnte nicht deuten, was ihr Blick ausdrückte. Verbitterung? Langeweile, Trauer? In ihren Augen lag eine Welt voller Dinge, deren Namen er nicht kannte.
    Er beugte sich leicht, kaum wahrnehmbar vor, um ihr näher zu sein.
    Sie drehte sich weg. «Steig aus.»
    Ihr gleichgültiger Ton schmerzte ihn. Ohne noch etwas sagen zu können, öffnete er die Wagentür und schlug sie hinter sich wieder zu. Der Motor heulte auf, und mit einem waghalsigen Wendemanöver schoss sie davon.
    Reglos sah er zum Ende der Straße, wo die Lichter des Wagens verschwanden. Unsichtbar, geräuschlos für den Rest der Welt klapperte ein Teil von ihm hinterher wie eine Blechbüchse am Auspuff.

[zur Inhaltsübersicht]
JETZT
    Ich liege wach neben ihr im Bett, halte ihren unbewohnten Körper und lausche nach den Träumen, die Noir durchstöbert – oder besser gesagt, die sie durchstöbern.
    Sie , das ist uns ein Rätsel, mir und ihr selbst.
    Ich frage mich, welches Schicksal sie damals so erschrecken konnte, ihr Leben aufzugeben. War ihr ein grausamer Tod bestimmt? Oder einfach wie mir ein früher? Vielleicht keins von beidem. Der letzte, endgültige Tod ist selten der schlimmste, den man erlebt.
    Vielleicht war es ihr Schicksal, viele Male zu sterben; ihr Ich immer wieder zerbröckeln zu sehen. Ich stelle sie mir als alte Frau vor, so viele Male gebrochen, dass sie gar kein ganzer Mensch mehr ist, nur noch hundert winzige Reflexionen in einem Scherbenhaufen …
    Sie zuckt leicht im Schlaf. Ich streiche ihr das Haar aus dem Gesicht und lege meine Hand auf ihre. Egal, was aus ihr hätte werden können: In der Wirklichkeit, in der ich lebe, werde ich dafür sorgen, dass sie für immer unbeschadet und ganz bleibt.
     
    Ich folge ihr durch die Erinnerungen, die sie träumt. Wie schmelzende Fotografien und vorüberwehende Pollen verwischen die Szenen, doch ein paar kann ich ganz klar erkennen, als öffne dort ihr Gedächtnis ein Auge und erwidere meinen Blick:
    Spiralen aus reflektiertem Licht hinter sich herziehend, schwebt die Goldkette in den Brunnen hinab. Ihre Mutter wird ihr drei Ohrfeigen geben dafür, das kostbare Erbstück verloren zu haben, aber noch schlimmer sind die Tränen der Mutter, Kugeln aus Blei an einer Siebenjährigen.
    Glücklich ist sie ein andermal. Da, in jenem Moment im Mai, als der Morgen die Nacht im Nacken küsst und nicht verabschieden will. Das jüngste Tageslicht saugt die Schatten von den Hochhäusern, und der Himmel ist so verletzlich, ein Blütenblättergewebe über der großen Dunststadt Paris. Vor dem Treppenaufgang der Wohnung, in der sie zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen hat, steigen sie auf sein Fahrrad, sie auf den Sattel und er auf die Pedale. Halte dich an mir fest,

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