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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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aufstehen und hinausspazieren war unmöglich. So unmöglich wie nie wieder an Noir denken. Oder seinen Tod hinnehmen. Sie alter Spinner, dachte er, schlüpfte aus seinen Sneakers und Socken und stellte die nackten Füße auf den Steinboden.
    «Was ist mit Ihrem Schmuck?», fragte er. «Stört so viel Metall nicht die Aura oder so?»
    Monsieur Samedi blickte ihm direkt in die Augen. «Du meinst, die Ringe könnten magnetisch wirken. Dann ziehe ich sie aus. Für dich.» Er rupfte sich einen Ring nach dem anderen vom Finger und ließ sie theatralisch zu Boden fallen. Dann streckte er die Hand unter den Tisch und zog einen scharfen Dolch hervor.
    «Moment», sagte Nino irritiert. «Das Symbol ist purer Quatsch, aber der Stich in den Finger nicht?»
    «Im Diesseits ist das Seelische an einen Körper gebunden. Die Trennung der beiden besteht im Tod. Wenn der Körper verfällt, kehrt das Seelische zurück in den ewigen Strom. Wir täuschen einen Verfall des Körpers vor, indem wir Blut spenden, und öffnen damit den Zugang zum ewigen Strom.» Ohne mit der Wimper zu zucken, stach Monsieur Samedi sich in die Kuppe seines linken Mittelfingers. Unzählige kleine Narben bedeckten die anderen Fingerspitzen. Bevor er den Dolch an Nino übergeben konnte, kramte der seinen Schlüsselbund hervor und stach sich mit seinem Taschenmesser. Dann drückte er die Fingerkuppe, an der eine Kirsche aus Blut wuchs, neben Monsieur Samedis auf das umgedrehte Glas.
    Eine Weile sahen sie sich schweigend in die Augen. Immer wenn Nino glaubte, Monsieur Samedi würde jetzt den Mund öffnen, um eine Instruktion zu geben oder eine Beschwörung zu sprechen, deutete er nur ein Nicken an und atmete durch die Nase.
    Nino dachte an alles Mögliche. Was in Monsieur Samedi vorgehen mochte, denn er spürte nur ein Flimmern ohne konkrete Gedanken oder Gefühle in ihm. Was gleich passieren würde. Und immer wieder, flüchtig und ununterbrochen wie rieselnde Schneeflocken, an Noir, die neben ihm im Auto gesessen hatte. Wie stark sie ihn in die Gegenwart zog. Als wäre sie ein magnetischer Ring am Finger der Zeit.
    Dann ließ er seine Gedanken in sich versinken. Er beobachtete, dass sein Bewusstsein ein kleiner Bach war, der in einen breiteren, ruhigeren Fluss mündete. Hier rauschten keine Erinnerungen und Überlegungen mehr. Nur noch Regungen ohne Worte. Er folgte dem Strom. Die Wellen gingen im Takt von Herzschlag und Atem. Die Gegenwart wurde endlos, weil sich nichts veränderte. Er blickte noch immer in Monsieur Samedis Augen, ohne ihn direkt wahrzunehmen.
    Das vertraute Gefühl stieg seine Wirbelsäule hinauf, als würde sein Inneres in ein warmes Bad gleiten. Es kam genau wie der Schlaf: Man durfte es sich nicht bewusst machen, sonst verschwand es. Man musste loslassen, untertauchen und sich hingeben.
    Das Glas unter ihren Fingerspitzen begann winzige, geschmeidige Kreise über das Holz zu ziehen. So begann der Dialog.
     
    Wer oder was bist du?

    Wer ist Constantino?

    Ein Symbol wofür?

    Was ist Leben?

    Stammst du von dem Ort, den man nach dem Tod erreicht?

    Gibt es einen Weg zurück ins Diesseits?

    Wie?

    Mit dir, einem Symbol des Lebens, kann man ins Leben zurückkehren. Aber wie? Als Geist? Bei einer Séance wie dieser?

    Dann bist du die Stimme der Toten, und das Glas ist ihr Körper?

    Kann man auch als der Mensch ins Leben zurückkehren, der man vor seinem Tod war?

    Kann ich, Nino Sorokin, sterben und wieder zurück ins Leben kehren, in diesen Körper, in dem ich jetzt lebe?

    Ist es mein Schicksal, mit vierundzwanzig zu sterben?

    In welchem Monat sterbe ich?

    Ich habe noch maximal zwei Wochen zu leben?

    Kann ich irgendetwas tun, um es zu verhindern?

    Kann jemand anderes etwas tun, um es zu verhindern?

    Wer?

    Was müsste jemand tun, um meinen Tod zu verhindern?

    Fortpflanzung? Indem ich ein Kind in die Welt setze, bleibe ich erhalten?

    Wie sterbe ich?

[zur Inhaltsübersicht]
19 .
    Z wischen manchen Fragen musste Nino innehalten und überlegen, wie er weiterkam. Es war, als würde man durch ein wurzelförmiges Labyrinth laufen. Hinter jeder Abzweigung spaltete sich der Weg in ein Dutzend neue Kanäle. Oft schien eine Antwort der vorherigen zu widersprechen; dann lag es an Nino, eine neue Bedeutung darin zu erkennen und so lange weiterzufragen, bis sich die Bedeutung bestätigte oder als falsch herausstellte. Manchmal verlor er selbst den Faden. Unermüdlich glitt das Glas über den Tisch, als säße ein unsichtbarer Dritter neben ihnen,

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