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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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sagt er. Sie tut es zögernd. Sie fahren durch die milchblauen Straßen, wo Lastwagen vor Bäckereien ausgeladen werden und Männer in Schürzen ihre erste Zigarette anzünden. Die Seine schwemmt ihr Aroma in die Luft, und sie denkt: Könnte man den Fluss atmen, er würde nach all den schmutzigen Hoffnungen schmecken, die in dieser Stadt vergossen werden. Sie denkt auch daran, dass sie ihn nicht liebt und froh ist, dass er auf eine andere Schule geht.
    Aber jetzt sind sie noch die einzigen Menschen auf der Welt. Alle anderen nur Phantome aus Geräuschen und Farben. Sie fahren über Asphalthügel, dem Wind in die Arme. Es wird Sommer. Und sie wird erwachsen.
    Sie hält sich an seiner schmalen Hüfte fest, ihre Finger auf seinem Gürtel, und seine Haare wehen über ihr. Fast weiß sie wieder, wie es in seinem Nacken riecht. Sein Geruch, das Geheimnis der Männer, aus der Ferne zieht es sie an wie der dämmernde Morgen, der die Nacht nicht gehen lassen kann. Die Straße, der Himmel, der Fluss, alles gehört einem fünfzehnjährigen Mädchen, für das für den Moment die Gegenwart vollkommen geworden ist.
    Noir?, sage ich in ihre Träume. Egal wer du bist, egal welche Version du bist und zu welcher Zeit. Ich glaube – und ich liebe dich.

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18 .
    E r verschlief um zwei Stunden. Katjuscha konnte ihn nicht wecken, weil sie bei Simone übernachtet hatte. Um halb elf stürzte er zur Arbeit, vergaß seine Brieftasche und blieb so unkonzentriert, dass Pegelowa ihn zweimal zusammenstauchte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie ihn feuerte.
    Abends rief ihn Philip an, doch er hob nicht ab. Eine halbe Stunde später meldete sich Julia. Er wollte auch mit ihr nicht sprechen. Während er darauf wartete, dass ihr Name auf dem Display seines Handys erlosch, überlegte er, ob er jemals wieder mit ihnen Gläserrücken spielen wollte. Er musste sich entscheiden: Entweder er ließ sich auf Monsieur Samedis Angebot ein – dann würde er von nun an nur noch mit ihm Séancen abhalten. Und Noir wiedersehen. Oder er ließ die Finger davon – dann durfte er nie wieder in seine Reichweite kommen. Und natürlich auch keine Zettel mehr benutzen, die Monsieur Samedi Philip verkaufte. So oder so, mit Philip und Julia würde er keine Zeit mehr verbringen.
    Er half Katjuscha beim Kochen, und sie aßen zu Abend, als Simone von der Arbeit kam. Dass Simone wieder in Katjuschas Leben war – und bleiben würde, selbst wenn er verschwand –, erleichterte ihn. Nach dem Abwasch zog er sich in sein Zimmer zurück. Er setzte sich ins Licht der kleinen Schreibtischlampe, hörte nebenan den Dokumentarfilm, den die beiden sich ansahen, und alles war, wie es immer gewesen war. Und doch war nichts wie früher.
    Er zeichnete sie. Sie war in ungenauen Menschenmengen, in Wäldern aus Gestalten. Überall war ihr Mund, ihr Blick. Noir steckte in jedem Bleistiftstrich, rätselhaft und so schmerzhaft schön, wie nur Dinge sein konnten, die im Ungreifbaren lebten. Bevor er einschlief, lag er lange in der Dunkelheit und seufzte ins Kissen.
    Ninissimo, meine süße Erbse
, hatte seine Mutter auf Italienisch zu ihm gesagt. Ihre Fingerspitzen hatten seine Wangen gestreichelt und sein Haar zerwühlt.
Ich liebe dich, mein Erbschen. Für immer. Für immer hab ich dich lieb.
BLEIB WACH .
    Er schloss die Augen. Jetzt war er vierundzwanzig, und er war kurz davor zu sterben, aber in seiner Erinnerung war er sehr jung – fünf Jahre alt –, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine Ahnung davon, was es bedeutete, ein Mann zu sein. Was es bedeutete, das Fremde zu lieben wie sich selbst.
     
    Den Tag darauf konnte er an nichts denken – weder an die Leute, die im Laden auf ihn zukamen, noch an seinen Tod, noch an Monsieur Samedi, der heute Abend die Séance mit ihm abhalten wollte. Sein ganzer Kopf war von der Vorstellung beherrscht, sie wiederzusehen.
    Doch ausgerechnet heute verdonnerte Olga Pegelowa ihn dazu, auf ihre beiden Enkelinnen aufzupassen, während sie mit ihrer Tochter und dem Schwiegersohn essen ging. Es stand ein grundlegendes Gespräch über Familie und Finanzen an, das bis spät in die Nacht gehen konnte.
    Um sechs Uhr fuhr er zu Pegelowas Tochter, wärmte die Pelmeni auf, die im Kühlschrank standen, und aß mit den Kindern vor dem Fernseher. Wartete. Spielte mit ihnen Mau Mau und Verstecken. Wartete mit zunehmendem Herzrasen. Inzwischen war es acht Uhr. In einer halben Stunde schaffte er es nicht nach Hause, selbst

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