Noir
deinem Namen drauf? Bist nur du in der Lage, diese Gedanken und Gefühle zu haben?»
«Situationsbedingt, ja.»
«Losgelöst von der Situation aber nicht.»
«Nein. Dann wohl nicht.»
«Dann wäre dein Ich im Jenseits, losgelöst von Körper und Situation, das Ich aller empfindsamen Lebensformen.»
Sein Daumennagel brannte. Er hatte sich blutig genagt. Schließlich drehte er sich zu Monsieur Samedi um, der ihn mit schräggelegtem Kopf musterte.
«Das ist Ihre Antwort, nicht meine.»
Dafür, dass Monsieur Samedi den Mund so weit aufriss, wie es nur ging, kam ein recht leises Lachen heraus. Nino fragte sich, ob der Araber mit derselben depressiven Verstimmung umgehen musste, die er nach jeder Séance empfand.
«Ich verrate dir gerne, welche Erkenntnisse ich aus dem Dialog mit dem Glas über das Jenseits ziehe. Ich mache es ja schon ein Weilchen länger als du. Ob du mir glauben möchtest oder nicht, liegt ganz an dir. Nun: Es gibt eine Quelle des Lebens, die paradoxerweise nur durch den Tod erreichbar wird. Alle Lebensformen, die wir in der Natur beobachten können, sind scheinbar Materie – funktionstüchtige Maschinen, die einen Stoffwechsel und die Fortpflanzung haben. Aber was macht diese Maschinen lebendig? Die Zündung, wenn man so will, ist ein Tropfen aus dem Quell des Lebens: etwas Immaterielles, Unmessbares. Eine Seele, wenn man so will.
Diese Seele aber ist Teil des großen Ganzen und beinhaltet in sich die Unendlichkeit. Das heißt, wir alle, die wir Teil des großen Ganzen sind, tragen die Unendlichkeit in uns. Wenn wir tief in uns hineinblicken, sehen wir dort die ganze Welt und alles Leben, das es gibt.»
«Das Glas ist ein Symbol für das, was ich tief drinnen längst weiß?»
«Ja. Man führt ein Selbstgespräch. Und doch kommen die Antworten nicht direkt von dir. Vielmehr bist du ein Teil dessen, was dir antwortet, und darum könnt ihr überhaupt kommunizieren. Im Jenseits ist der Geist. Du und ich, wir sind nur die Finger, die reagieren und zucken.»
Nino dachte nach. Ein Teil von ihm wollte alles als esoterischen Quatsch abtun. Aber dieser Teil konnte nicht mehr verdrängen, was er erlebt hatte. Die Fragen, die in ihm keimten – junge, unberührt wirkende Fragen, als hätte nie zuvor ein Menschengedanke sie gestreift, obwohl es vermutlich die ältesten Fragen der Menschheit waren –, ließen sich nicht mehr mit Vernunft beantworten. Aber er durfte sie auch nicht Monsieur Samedi stellen. Nur eigene Antworten waren von Wert.
Dennoch, ein paar Dinge gab es, die er von dem Araber wissen wollte.
«Warum ausgerechnet in Clubs?»
Monsieur Samedi verengte die Augen.
«Was wir hier erleben, was Sie können, das ist ein Phänomen, das unser Weltbild völlig verändern würde. Wieso gehen Sie nicht an die Öffentlichkeit?»
«Das haben einige schon vor mir getan, die nicht weniger Talent hatten. Es ändert nichts. Menschen sind permanent von Wundern umgeben. Mal glauben sie an dies, mal an jenes. Ich könnte zweifelhaften Ruhm als sogenannter Parapsychologe erlangen, aber wozu? Wer das Offensichtliche nicht sehen will, den kann man nicht zwingen. Und im Moment befinden sich unsere Mitmenschen in einer kollektiven Verleumdung all dessen, was unerklärlich und deshalb beunruhigend ist.»
«Gut, wenn Sie davon überzeugt sind. Aber Sie halten Ihre Séancen mit zugedröhnten Jugendlichen ab. Gibt es kein passenderes Umfeld?»
Monsieur Samedi grinste. «Um an jemanden wie dich zu kommen? Nein.»
Anders als erwartet bot Monsieur Samedi ihm nicht an, noch eine Runde zu spielen. Nino war das nur recht. Er wusste nicht, wie viel Zeit während der Séance vergangen war, aber er wollte nicht zu spät zur Arbeit kommen und erst recht nicht auf das Frühstück mit Noir verzichten.
Als Monsieur Samedi die Zimmertür aufschob, stand sie bereits im Flur. Sie schien die ganze Zeit gewartet zu haben.
«Bis zum nächsten Mal.» Er schloss Ninos Hand in seine beiden und machte eher horizontale Wellenbewegungen, anstatt sie zu schütteln.
«Wann?»
«Noir holt dich ab.» Er bedeutete ihm mit einem Wink, zu gehen.
«Komm.» Noir führte ihn nach unten.
Nino warf einen Blick auf sein Handy und stellte erschrocken fest, dass es bereits 7 Uhr 45 war. Die Séance hatte über zwei Stunden gedauert. «Was hast du so lange gemacht?», fragte er, als sie im Aufzug standen.
Er war bereits so daran gewöhnt, dass seine Fragen ins Leere gingen, dass ihr Schweigen ihn kaum mehr irritierte. Der Aufzug
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