Noir
Zeit. Aber ich hoffe, dass es dazu nicht kommt.»
Sie ließ ihn stehen, stieg ins Auto und fuhr weg.
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JETZT
Während sie träumt, entkleide ich sie. Nach und nach lege ich ihre weiße Existenz frei, bedecke sie mit Küssen, damit sie nicht friert. Ihr Bauchnabel ist ein flacher Knopf, der mich daran erinnert, dass sie einmal eine Mutter hatte und ein Mensch war. Ihre Hüftknochen lotsen meine Hände hinab in ihr Zentrum. Ich streiche mein Gesicht an ihr, an der Spitze des Entzückens fast verzweifelt darüber, dass meine Sehnsucht nie ganz gestillt werden kann. Wenn ich sie jetzt so fest an mich drücken würde, wie ich könnte, würden ihre zarten Knochen brechen, dann würde sie in Milch und Seide zerfließen und einfach ein Teil von mir werden. Aber ich will sie lieber so, außerhalb von mir. Das, was in mir ist, kann ich nicht so leicht lieben.
Ich lege mich über sie, halte ihr Gesicht, atme ihren Geruch. Ihre Augenlider flattern, ihre Lippen lösen sich voneinander. Ich spüre, wie die Bilder ihrer Träume sie durchschwappen, und will daran teilhaben.
Ihr Haar rauscht in den Laken. Ich schiebe einen Arm unter sie und halte ihre Taille, küsse ihren Mund, der lauwarm und weich ist wie ein gemurmeltes Gebet. Sie gehört mir. Lass mich ertrinken in meinem Glück.
Während ich sie halte, wird sie immer greifbarer; ihr ganzes Wesen rieselt wie Sand in ihre physische Gestalt hinein. Ihr Herz beginnt sich mir entgegenzuwerfen, ihr Atem pflückt kleine Seufzer aus ihrer Kehle. Unsere Körper werden Sprache für das Unsagbare; dann sind sie gar kein Ausdruck mehr, sondern ein Zustand, unser Sein selbst. Sie klammert sich an meinen Hals, und ihr Inneres verhärtet sich, die Gegenwart dehnt sich, zerspringt. Ich spüre ihr nach, stürze mich hinein in ihre Dunkelheit und begreife gerade noch, dass ich mich geirrt habe, dass nicht ich sie genommen habe, sondern sie mich nimmt; und als ich in die Besinnungslosigkeit gleite, öffnet sie die Augen und lässt mich wissen, dass sie wach war.
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20 .
D er Tag verging, und auch der darauf. Und der darauf folgende. Noir kam nicht wieder, um ihn zu Monsieur Samedi zu bringen, obwohl er nachts manchmal aufwachte und glaubte, sie am Bettende stehen zu sehen. Wenn er ihren Namen sagte und das Licht anknipste, war niemand da, und er lauschte vergebens nach forteilenden Schritten.
Julia rief zweimal, Philip sogar fünf- oder sechsmal an, doch er hatte keine Lust, dranzugehen. Sie gehörten zu einem Leben, das nicht mehr seins war. Damals hatte er an einem Bahnhof gesessen und gewartet, jetzt lief er sehnsüchtig einem Zug nach, für den er kein Ticket hatte.
Drei Tage, nachdem er mit Noir frühstücken gewesen war, rief jemand mit unterdrückter Nummer an. Misstrauisch hob er ab. «Ja?»
«Hey, Nino! Hier ist Mona», sagte eine vollkommen unbekannte Stimme.
«Wer?»
«Die Freundin von Julia. Weißt du noch …»
Er erinnerte sich. Das dunkelhäutige Mädchen aus dem Chemiewerk. Wenn er richtig lag, hatte er nie ein Wort mit ihr gewechselt. «Woher hast du meine Nummer?»
«Von Julia. Wie geht’s?»
«Gut.»
«Jaaa … ich wollte fragen, ob du Lust hast, uns zu treffen.»
«Ich hab keine Zeit. Ein andermal.»
«Morgen?», fragte sie sofort.
Nino versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, ob er nicht doch irgendetwas mit ihr zu tun gehabt hatte. Aber da war nichts vorgefallen, was einen so penetranten Anruf gerechtfertigt hätte. Wahrscheinlich stand Julia neben ihrer Freundin und hörte mit. Sie und Philip mussten Mona angestiftet haben, weil das Gläserrücken ohne ihn nicht funktionierte.
«Ich hab keine Zeit», wiederholte er.
«Überm…»
«Grüß Julia.» Er legte auf, bevor sie zu Ende sprechen konnte.
Wenige Sekunden später rief sie wieder an. Natürlich ging er nicht dran. Doch fünf Minuten später klingelte es erneut. Und noch einmal nach zehn Minuten. Als sie nach einer halben Stunde schon wieder anrief, schaltete er sein Handy aus.
Am nächsten Nachmittag tauchte Noir in Pegelowas Laden auf. Er hörte nicht, wie die Glöckchen über der Tür klingelten. Einfach so, als wäre sie geradewegs aus dem Boden gewachsen, stand sie plötzlich vor ihm im Gang. Vor Schreck suchte er Halt am Regal und fegte mehrere Dutzend Bleistifte zu Boden.
Pegelowa, die gerade mit einer Kundin beschäftigt war, spähte argwöhnisch zu ihm hinüber. Nino bückte sich, um die Bleistifte wieder einzusammeln, und Noir half
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