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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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der es von Buchstabe zu Buchstabe zog. Monsieur Samedis Finger lag so schwer und reglos obenauf, dass Nino es für ausgeschlossen hielt, dass er das Glas bewegte. Wären seine Augen nicht halb geöffnet gewesen, hätte er ihn für schlafend gehalten. Er schien tatsächlich gar nicht da zu sein.
    Dennoch wagte Nino es nicht, etwas über Noir zu erfragen. Welche Arbeit genau sie für Monsieur Samedi erledigte und ob sie ihn, Nino, mochte, musste er wohl oder übel auf herkömmlichem Wege in Erfahrung bringen.
    Schließlich wurden die Antworten des Glases immer undeutlicher, dann gänzlich unverständlich. Monsieur Samedi legte den Kopf in den Nacken, drehte die Augen und brummte.
    «Wir entlassen dich. Sorokin, kehre mit mir zurück.»
    Das Glas kam auf der Mitte des Tisches zum Stillstand, und das Gefühl, von innen gehalten zu werden, ebbte ab. Wie immer blieb nur eine klamme Verlassenheit. Nino stand nass und frierend an der Küste eines Meeres, in das er vorerst nicht mehr eintauchen konnte. Er sehnte sich nach dem augenschließenden Trost von STYX .
    Sie nahmen ihre Finger vom Glas. Schweigend zogen sie sich wieder an. Da Nino seine Hose anbehalten hatte und kein Hemd zuknöpfen musste, war er schneller fertig und drehte sich zum Kaminfeuer um. Jetzt fiel ihm auf, dass er das Fauchen und Zischen der Flammen die ganze Zeit gehört, aber nicht beachtet hatte. Er spürte die Wärme bis hier. Sie war nicht angenehm, sondern bedrückend.
    «Für das erste Mal nicht schlecht. Deine Fragenformulierung ist zum Ende hin besser geworden. Die Antworten sind nur so gut wie die Fragen.»
    «Haben Sie alles mitverfolgt?»
    «Ja.»
    «Sie haben mich angesehen. Nicht das Glas.»
    «Auch die Antworten habe ich verfolgt. Nicht mit den Augen. Das Glas, die Buchstaben, das sind nur Symbole. Die Wahrheit entsteht erst in deinem Bewusstsein, und das war die ganze Zeit offen.»
    «Kann jeder das lernen?»
    «Du meinst, ob
du
Telepathie lernen kannst. Du kannst es längst.»
    Nino nagte an seinem Daumennagel und starrte ins Feuer.
    «Du hast viel über das Jenseits erfragt, das Unbekannte, zu dem der Tod führt. Was meinst du, welches Bild hast du jetzt davon?»
    Er musste überlegen. «Ganz verstanden hab ich es nicht. Einerseits behauptet das Glas, von da zu kommen, wo alles nach dem Tod hingeht. Andererseits ist es reines Leben. Und das Glas bin ich. Es scheint … aber das ist unmöglich.»
    «Unmöglich? Vergiss dieses Wort!»
    «Okay. Es klingt aber lächerlich.»
    «Die Wahrheit ist meistens lächerlich.»
    «Also, worauf diese Antworten anscheinend hinauslaufen, ist, dass … es eine Spiegelwelt gibt. Eine Welt nach dem Tod, die genauso ist wie unsere. Dort ist das Leben, und dort bin ich.»
    Monsieur Samedi schwieg. Nino blickte weiter ins Feuer, vielleicht, weil er fürchtete, ein amüsiertes Lächeln auf dem Gesicht des Arabers zu entdecken. Oder vollste Zustimmung. In beiden Fällen käme er sich wie ein Idiot vor.
    «Das ist eine interessante Interpretation. Was ist deine Definition von ‹Leben› und ‹Ich›?»
    «Leben ist … das Glas hat gesagt, Leben ist Jetzt. Also ist Leben die Gegenwart, die Veränderung, das nie gleich Bleibende. Wo auch immer welcher Teil auch immer von uns landet, wenn wir sterben, dort gibt es Veränderung und demnach Zeit.»
    «Gute Schlussfolgerung. Was ist ‹Ich›?»
    «Sie stellen Fragen. Ich hab Philosophie nach zwei Semestern abgebrochen.»
    «Du musst doch wissen, was du bist, bevor du davon ausgehen kannst, dass du in einer Parallelwelt jenseits des Todes existierst. Was ist denn das für ein Ich, das im Jenseits ist?»
    «Keine Ahnung. Vielleicht genau dasselbe, das auch hier ist. Mit einem … nein, ohne Körper. Sonst könnte dieses Ich ja nicht vom Glas Besitz ergreifen und mit uns sprechen. Ein körperloses Ich, das in beliebige Körper schlüpfen kann.»
    «Aha. Wenn du dein Ich hier im Diesseits einmal von deinem Körper losgelöst betrachtest, was bleibt dann davon übrig?»
    «Mein Körper ist Teil meines Ichs. Das kann man nicht lösen.»
    «Wenn du deinen Fuß weglässt, deine Lungen und deine Gedärme, was macht dich dann noch aus?»
    «Ich wäre ein anderer, wenn ich nur einen Fuß hätte. Die Beschaffenheit des Körpers, Gesundheit, Aussehen, Fähigkeit, das alles nimmt doch Einfluss auf den Charakter.»
    «Stell dich nicht dumm! Was bist du, jetzt gerade, in deinem Bewusstsein?»
    «Erinnerungen. Gedanken. Gefühle.»
    «Gedanken, Gefühle! Ist da ein Stempel mit

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