Nomadentochter
ihm war zerbrochen. Vielleicht hatte Dhura deshalb auch kein Kind von Mohammed.
Als wir zu ihrer Wohnung zurückkamen, hörte ich, wie Aleeke im Hinterzimmer mit den beiden anderen Kindern herumtobte. Obwohl sie viel älter waren als er, scheuchte er sie durch die Gegend. Mein Sohn ist ein kleiner Krieger, ein echter Somali und Afrikaner. In Somalia bezeichnet man mit »Krieger« einen Mann. Mein Bruder erinnerte mich an die somalischen Männer, und ich hatte einen in meinem Sohn. In meiner Kindheit im Busch waren Männer entweder Kämpfer oder Hirten. An erster Stelle steht jedoch der Krieger, und Aleeke ist bestimmt einer.
Ich machte mir Sorgen, dass er sich als Außenseiter fühlen könnte, wie es mir als Kind ergangen war – dass er sein Familienerbe nicht verstehen würde. Er entstammt einem mächtigen und bedeutenden Stamm. Ich wollte gerne, dass er seine Familie in Afrika kennen lernt, aber ich konnte meinen kostbaren Jungen, den ich mehr liebte als mich selbst, unmöglich dorthin mitnehmen. Hoffentlich kämen wir heil wieder zurück – von einer friedlichen, erfolgreichen Reise. Je mehr Mohammed von den Schießereien in Mogadischu und Banditen an der Grenze zu Äthiopien berichtete, desto besorgter und nervöser wurde ich. Ich wollte so gerne meinen Sohn mit in die Heimat nehmen und ihn meiner Mutter, seiner Großmutter, vorstellen, damit er mehr von ihr erfuhr als nur einen Namen. Ihre Persönlichkeit, ihre Beziehung zum Leben und ihre Weisheit sollte er mitbekommen. Er sollte seine ganze Familie in Afrika kennen lernen, denn wie konnte er jemals stolz auf sich sein, wenn er nicht vertraut war mit seiner Herkunft?
Inschallah!
Ich werde Aleeke ein anderes Mal hinbringen. Meine Mutter sollte sehen, dass Aleeke Alter Mann wie aus dem Gesicht geschnitten ist, dass mich alles an ihm an meinen kleinen Bruder erinnert. Wenn ich es ihr nur erzählte, würde sie es nicht glauben. Sie musste sich selbst davon überzeugen, deshalb würde ich auch nichts sagen.
Als ich Dhura die Kleider zeigte, die ich eingepackt hatte, lachten wir über die Probleme, die ich in New York gehabt hatte, etwas Passendes zu finden.
»So einen Wickelrock anzuziehen, würde Mohammed mir nie erlauben«, sagte sie.
»Ich dachte, er wollte nie wieder in Somalia leben«, entgegnete ich. »Warum kleidest du dich dann nicht wie die Holländerinnen?«
Dhura nickte mir lächelnd zu. »Warten wir es ab«, meinte sie. Ich fragte sie, ob es in der Nähe der Wohnung irgendwelche Geschäfte gab, in denen ich somalische Kleidung kaufen konnte; aber sie erklärte mir, dass die Frauen sie sich selber nähten, und bot mir an, mir für die Reise ein paar von ihren Gewändern zu leihen. Ein
dirah
war mit hellgelben Blumen bedruckt, meine Lieblingsfarbe. Sie gab mir einen mit blauen und silbernen Fäden bestickten Slip zum Darunter ziehen und einen geblümten passenden Seidenschal, damit ich Kopf und Gesicht bedecken konnte. Ich legte alles an, und Dhura erklärte, ich sähe aus wie eine originale Somali – nur meine Augen verrieten mich. Ich schritt im Zimmer auf und ab und zog den Schal herunter, damit sie mich lächeln sehen konnte. Das lange Kleid wirbelte um meine Füße, und fast trat ich auf Aleeke, der hereingerannt kam und wissen wollte, warum wir so lachten.
Als Mädchen kämpfte ich immer mit diesen langen Kleidern. Eines Nachts weckte uns mein Vater und erklärte, wir müssten zu neuem Weideland weiterziehen. Meine Mutter und ich rollten die Grasmatten zusammen, die unsere Hütte bedeckten. Sie zog die gebogenen Stöcke für das Gerüst aus der Erde und lud alles auf die Kamele. Auf einem anderen Kamel befestigten wir die Milchkörbe und Wasserschläuche. Mein Vater führte die Kamele, und wir anderen folgten ihm mit der Ziegenherde. Von Mitternacht bis zum Sonnenuntergang des nächsten Tages marschierten wir ohne Unterbrechung. Schließlich gelangten wir an unseren neuen Weideplatz. Dort würden wir bleiben bis zum vollen Mond. Das Gras war frisch, und mein Vater sagte, in der Nähe gäbe es ein Wasserloch, das unserem Stamm gehörte. Wenn man irgendwo sein Lager aufschlägt, schafft man zuerst ein Gehege für die Tiere, deshalb sagte mein Vater zu mir: »Waris, wir müssen für die Kamele und Ziegen einen Pferch bauen.« Mir kam es immer so vor, als ob jeder einzelne Baum oder Busch in Somalia Dornen hätte, und ich war ständig überall zerkratzt, weil ich die Äste mit bloßen Händen tragen musste. Mein Vater hackte die Büsche mit
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