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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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erwarten, dass ich die Augen niederschlug, um ihm meinen Respekt zu erweisen; aber dazu war ich nicht mehr bereit! Ich würde ihm mit offenem Blick begegnen, ihn anstarren, und er könnte mich nicht übersehen. Mich, Waris, die Tochter, die er einem alten Mann für ein paar Kamele verkaufen wollte und die jetzt ihr eigenes Geld verdiente. Er würde das Mädchen sehen, das er nie zur Schule geschickt hatte und das dennoch Autorin geworden war. Das Mädchen, das Sonderbotschafterin der UNO für Friedensangelegenheiten war.
    Auch über Klitorisbeschneidung wollte ich reden. Meine Familie hatte mir kein Leid zufügen wollen, schließlich hatten meine Mutter und meine Schwestern, das Gleiche erduldet. Sie glaubten wirklich, es müsse geschehen, damit man rein wurde. Und sie glaubten, der Koran schreibe es vor. Mittlerweile weiß ich es besser. Diese rituelle Praktik ist im Koran nicht einmal erwähnt – aber die
Wadaddo
, die Religionslehrer, haben es verbreitet. Niemand konnte den Koran oder den
hadith
lesen – meine Mutter hörte auf die religiösen Führer und stellte nicht in Frage, was sie verkündeten. Ich war auch meinem Vater nicht böse, weil er mich an einen alten Nomaden zu verschachern gedachte. Er sagte zu mir: »Waris, du bist zu stark und zu wild. Ich muss dich verheiraten, solange dich überhaupt noch ein Mann nimmt.« Er glaubte, wenn ich erst einmal verheiratet wäre, würde ich mich endlich nicht mehr wie ein Junge aufführen. Die Wahl des Gatten hat nichts mit Liebe zu tun. Sie wird von den Eltern getroffen, um den Zusammenhalt im Stamm zu sichern und Kinder hervorzubringen. Der Preis, den ein Mann für eine Frau zahlt, zeigt, dass er in der Lage ist, sie zu ernähren. Wenn er nichts hat und auch der Stamm nichts zu seinem Lebensunterhalt beitragen will, dann überlässt man ihm auch seine Tochter nicht.
    »Sie wird uns viele Kamelstuten und weiße Ziegen als Brautpreis einbringen«, sagten meine Tanten immer über meine ältere Schwester Halimo.
    »Hiiyea!«, antwortete meine Mutter dann und hob Halimos Kleid, um ihre Beine zu zeigen, wenn nur Frauen anwesend waren. Alle packten ihren Rocksaum, um sie zu necken. Sie wirbelte herum und zeigte ihre schmalen Fesseln. »Für weniger als zwanzig Kamele geben wir sie nicht weg, das sage ich euch«, prahlte Mama immer. Mein Kleid zog sie nicht hoch, um meine Beine zu zeigen. Sie waren komisch geformt und bogen sich nach außen. Gut, schöne Beine hatte ich nicht, aber starke und schnelle. Wenn man Kamele hütet, muss man schnell sein. Oft sind große Schritte notwendig, sonst kommt man vor Einbruch der Dunkelheit nicht dahin, wo man hinwill, und die Hyänen sehen einen auch besser. Ich dachte, mein Vater wäre stolz auf mich, weil ich so schnell laufen konnte wie ein Mann; aber er hatte immer nur Ärger, weil ich aufmuckte oder meine Röcke hochsteckte. Ganz egal, was ich tat, ich war und blieb ein Mädchen!
    Wir versteckten uns immer hinter meiner Mutter, wenn mein Vater tobte.
    Einmal zogen wir mitten in der Nacht zu einem neuen Weideplatz und bauten dort auf. Sofort schickte mein Vater mich zum Ziegenhüten. Weil wir die ganze Nacht hindurch gelaufen waren, war ich so müde, dass ich im Schatten eines Baumes einschlief. Damals noch ein Kind, konnte ich die Augen partout nicht offen halten. Als ich aufwachte, war eine Seite ganz schwarz von der Sonne, weil sie gewandert war und ich nicht mehr im Schatten saß. Die Tiere waren weg! Weg! Entsetzt suchte ich nach Hufabdrücken, aber es waren zu viele und ich konnte ihre Zugrichtung nicht feststellen. Schließlich kletterte ich auf den höchsten Baum in der Umgebung und von dort sah ich weit entfernt im hohen Gras die Köpfe der Ziegen. Ich sprang wie eine Gazelle durchs Feld, als ich hinter ihnen herjagte. Ich war so erleichtert, wenigstens ein paar wiedergefunden zu haben, dass ich gar nicht wissen wollte, wie viele fehlten. Also tat ich so, als sei nichts geschehen und trödelte zurück zum Lager.
    Am Abend zählte mein Vater die Tiere, bevor er sie ins Gehege sperrte. Am Morgen zählte er sie dann noch einmal. Als er damit anfing, stellte ich mich hinter meine Mutter. Langsam zählte er
koe, laba, suddah, afra, shun
und so weiter bis fünfzig. Je höher er kam, desto dichter drängte ich mich an meine Mutter. Am liebsten wäre ich in sie hineingekrochen. Mein Vater zählte noch mal, aber zwei Tiere fehlten, ein Muttertier und ein Zicklein. Er rief mich zu sich, doch ich rührte mich nicht von der Stelle;

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