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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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seinem langen Messer um, und ich zog die Zweige heraus.
    »Trag diesen Haufen dorthin, wo deine Mutter das Haus errichtet«, wies er mich an und ging rasch zum nächsten Gebüsch. Der Wind wehte, und mein Kleid verfing sich oft in den Dornen, wenn ich die Zweige aufheben wollte. Ich musste aufpassen, dass ich es nicht zerriss, weil es mein einziges Kleid war. Deshalb band ich es zwischen den Beinen zusammen, sobald mein Vater außer Sichtweite war, und trug den Zweigeberg zum Lager. Da rief mein Vater von weitem: »Waris, warte auf mich!« Mir war klar, dass er mir nicht erlauben würde, mit geschürztem Rocksaum herumzulaufen; also nahm ich einen großen Dorn und zerkratzte mich damit. Anschließend verteilte ich das Blut auf meinen Armen und im Gesicht, sodass es aussah, als würde ich überall bluten. Als mein Vater mich einholte, fragte er: »Was ist los, Kleines?«
    Ich erwiderte: »Oh, nicht so schlimm. Aber, sieh mal, Vater, ich blute schon am ganzen Körper und jetzt soll ich diese Zweige tragen, obwohl sich mein Kleid ständig in den Dornen verfängt und ich darüber stolpere. Das geht nicht!«
    Er sagte: »Na gut, dann lass dein Kleid jetzt oben; aber gib Acht, dass dich keiner sieht. Und wenn du fertig bist, ziehst du es sofort wieder herunter und bedeckst deine Beine,
Afdokle
.« Das war mein Spitzname: Afdokle, Kleiner Mund.
    Vor Freude über meine endlich bequeme Kleidung hüpfte und sprang ich auf dem Heimweg die ganze Zeit über. Was konnte mein Vater schon dagegen unternehmen? Er hatte ja auch den ganzen Arm voller Zweige.
    In den zwei Tagen, in denen wir auf unseren Flug warteten, machte mein Bruder Mohammed mich wahnsinnig. Ständig schrie er Durah an. »Bring mir mein kariertes Hemd! Wo ist mein Brillenetui?« Er konnte nicht eine Minute still sitzen. Es zerriss mir das Herz und brachte mich zugleich auf die Palme. Pausenlos lief er hin und her und fragte mich ununterbrochen, ob ich schon gepackt hätte. Am Tag vor unserer Abreise saß ich da mit Aleeke auf dem Schoß, der seine Honigmilch trank, als Mohammed hereinkam und fragte: »Bist du noch nicht fertig?«
    Ich sagte: »Hey, Bruder, hör zu,
Krieger
! Weißt du eigentlich, wann wir fliegen? Um neun Uhr morgen früh! Wir schlafen heute Nacht noch einmal hier, also haben wir zwölf Stunden Zeit.«
    »Wie willst du denn mit allem fertig werden?«, beharrte er. »Deine Sachen sind in der ganzen Wohnung verstreut.«
    »Mohammed«, fuhr ich ihn an, »ich habe zwar noch nicht gepackt, aber es liegt alles bereit, und ich mache mir keine Gedanken.« Er wollte nicht, dass ich die Reisetasche voller Geschenke mitnahm, die ich in New York gekauft hatte.
    »Lass sie hier«, riet er. »Sie brauchen deinen Müll nicht. Wir sollten uns nicht mit Ballast beschweren.«
    Ich entgegnete: »Das sind meine Sachen, und ich nehme sie mit.«
    »Nun, ich weiß nicht, wie du das alles tragen oder ins Flugzeug bringen willst.« Er zuckte die Achseln.
    Um fünf Uhr nachmittags war sein brauner Koffer fertig. Wir fuhren zwar erst um fünf Uhr morgens zum Flughafen, aber er stellte jetzt schon alles an die Wohnungstür. Ich ging in mein Zimmer und kümmerte mich um meine Taschen. Um halb zwei Uhr morgens war ich so weit. Ein letztes Mal nahm ich meinen kleinen Aleeke in den Arm, strich ihm über den Kopf und sang ihm ein Liedchen vor. »Mama fährt nach Afrika«, sang ich, »sie ist nicht mehr hier, wenn du aufwachst, aber sie kommt bald zurück.« Er schlief so süß, dass ich es kaum ertragen konnte, ihn verlassen zu müssen. Ich weiß, dass man im Leben bestimmte Schritte zu vollziehen hat. Manchmal ist das Leben ein Marsch, und man setzt am besten einfach einen Fuß vor den anderen. Noch bevor die Sonne aufging, würden wir unsere Reise antreten.
    In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, und als ich gerade eingedöst war, klopfte Mohammed an die Tür. An den Zeitunterschied zwischen Europa und Amerika hatte ich mich immer noch nicht gewöhnt – für mich war es tatsächlich mitten in der Nacht.
    »Steh auf, es geht los«, rief er.
    »He, wir haben doch noch Zeit.«
    »Waris, wir müssen fahren«, zischte er aufgebracht. »Zum Flughafen ist es weit.« Mohammed hatte panische Angst, den Flug zu verpassen, also rappelte ich mich hoch. Wir brachen noch vor fünf Uhr auf und fuhren lange durch die schlafende Stadt. Zwei Stunden vor dem Abflug kamen wir in Schiphol an. Ich sah zu, wie die Sonne durch die dicken, grauen Wolken drang und betete zu Allah, er möge uns eine

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