Nomadentochter
Wahrscheinlich lastete hier ein Fluch drauf. Ich weiß es nicht. Meine Mutter war seinerzeit in eine Schießerei zwischen zwei rivalisierenden Stämmen geraten. Sie sammelte gerade Feuerholz, tat niemandem etwas Böses, und Soldaten ballerten durch die Gegend. Sie wurde von einer – vielleicht sogar zwei – Kugel in die Brust getroffen. Ich schickte Fartun Geld, und sie holten sie nach Abu Dhabi, damit sie ärztlich behandelt wurden. Natürlich nahm ich das erste Flugzeug, um sie dort zu treffen. In New York versicherte man mir, ich bräuchte kein Visum. Als ich jedoch nach einem achtzehnstündigen Flug ankam, ließ man mich nicht vom Flughafen. Ein hässlicher, dicker Mann sagte mir, ich habe kein Visum und dürfe nicht ins Land hinein. Meine Mutter und meine Schwester standen draußen in der Ankunftshalle, aber ich konnte nicht zu ihnen. Ich war jedoch so entschlossen zu einem Besuch, dass ich auf schnellstem Weg nach New York zurückflog, zur Botschaft der Vereinigten Emirate marschierte und mir ein Visum besorgte. Dann gab ich noch einmal fast dreitausend Dollar aus, um wieder nach Abu Dhabi zu reisen. Als ich dort ankam, stand abermals derselbe hässliche, dicke, kleine Mann da. Ihm fehlten zwei Vorderzähne, und ich hätte ihm mit Freuden auch noch die restlichen Zähne ausgeschlagen! Er nahm meinen Pass mit dem Visumsstempel und ließ mich im Zollbereich stehen. Den ganzen Tag über wartete ich. Ich traute mich nicht, zur Toilette oder etwas essen zu gehen, damit ich auf keinen Fall seine Rückkehr verpasste. Schließlich rief er meinen Namen auf, und als ich vortrat, grinste er mich höhnisch an und erteilte mir einer neuerliche Absage.
»Bitte«, flehte ich ihn an, »ich war extra noch einmal in New York, um das von Ihnen gewünschte Visum zu bekommen. Was ist denn das Problem? Sagen Sie es mir! Meine Mutter ist angeschossen worden. Bitte, lassen Sie mich zu ihr!«
Er starrte stur geradeaus und schnarrte: »Ich habe es Ihnen doch gesagt, Sie dürfen nicht einreisen.« Dann reichte er mir meinen Pass: »Wohin wollen Sie? Sie müssen den nächsten Flug nehmen.«
»Ich gehe erst, wenn Sie mir erklären, wo das Problem liegt.«
Er erwiderte: »Gerade gehen die Leute nach London an Bord, und ich werde Sie in diese Maschine setzen.«
Ich erklärte ihm, dass ich nicht in London wohnte. »Warum wollen Sie mich dorthin abschieben?«, schniefte ich. »Ich lebe in New York.« Weinend bettelte ich weiter, aber er hörte mir gar nicht zu.
»Sehen Sie diese Frauen dort drüben?«, zischte er. Es waren gemein aussehende Frauen in Polizeiuniformen. »Entweder besteigen Sie jetzt das nächste Flugzeug oder sie tun Ihnen weh. Das kann ich Ihnen versprechen! Sie tun Ihnen weh und schieben Sie dann ab!« Die Frauen zerrten mich zur Gangway, und ich hörte die Leute lachen, als ich an ihnen vorbeikam. Ich werde es nie vergessen.
Und jetzt saß ich auf demselben Flughafen fest, bezahlte über einhundertfünfzig Dollar für ein schäbiges Loch und wurde behandelt, als sei ich kein menschliches Wesen. Es schnürte mir die Kehle zu. Dafür gab es gar keine Worte, um das zu beschreiben.
Islam bedeutet Unterwerfung, und ein Muslim ist jemand, der sich Gott unterwirft. Ich fiel auf die Knie und sagte zur Allah: »Bitte, hilf mir!« Würde ich wohl jemals wieder etwas Gutes und Freudiges erleben? »Inschallah, Inschallah! So Gott will, wird alles gut«, wiederholte ich ununterbrochen. Jedes Geschehen hat einen Grund. Das glaube ich tief in meinem Herzen, und diesmal hoffte ich aufrichtig, es möge ein guter Grund sein.
Gegen das Böse
Das Böse lauert hinter uns; halte stand!
Das Böse wartet vor uns; flieh!
Das Böse lauert über uns; bleib stehen!
Das Böse steigt auf; drück es nieder!
Das Böse schreitet neben uns; stoße es von dir!
(Somalisches Gebet)
6
Nachtflug
H
allo, Mama Afrika
, summte es in meinem Kopf, als ich nach über zwanzig Jahren in meiner Wüstenheimat landete. »Hallo, Mama Afrika, bist du wohlauf? Mir geht es gut, und ich hoffe, dir auch«, sang ich lächelnd, als ich aus dem Flugzeug stieg und vom Himmel empfangen wurde. Ich war wieder daheim! Tanzend hüpfte ich die Gangway hinunter, die auf dem Rollfeld an die Maschine geschoben worden war. Mein Herz klopfte heftig, als ich das Land und vor allem den Wüstenhimmel sah. Der somalische Himmel ist die Heimat der Sonne und des Mondes; er erstreckt sich endlos. Diese Weite gibt einem selber das Gefühl, groß zu sein. Ich breitete die Arme aus
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