Nomadentochter
Ich konnte es nicht fassen. Mein Mund wurde trocken und ich bekam keine Luft mehr.
»Bitte! Bitte, helfen Sie mir«, flehte ich. »Ich will mit meinem Bruder nach Somalia fliegen. Wir haben unsere Familie sehr lange nicht mehr gesehen. Unser Flug geht erst in zwei Tagen, und ich möchte bis dahin bei meiner Schwester wohnen.«
Der Mann tippte mit seinen dicken Fingern auf den Pass. »Sie haben kein Einreisevisum«, beharrte er.
»Ich will doch nur meine Mutter in Somalia besuchen. Können Sie denn nicht sehen, dass ich eine Somali bin?« Er drehte zwar den Kopf in meine Richtung, blickte aber an mir vorbei zur Wand. »Bitte, Sie«, bettelte ich. »Ich möchte lediglich bei meiner Schwester warten auf den Anschluss.«
»Sie haben kein Visum«, wiederholte er. »Und das heißt, dass Sie den Flughafen nicht verlassen dürfen.«
So lautete sein Bescheid, und er warf mir meinen Pass zu. Dann drehte er sich um und winkte dem Nächsten.
Wozu man all diese Papiere und Dokumente braucht, werde ich nie verstehen. Warum haben sie bloß so viel Macht über die Menschen? In Somalia besitzt niemand Papiere. Wir brauchen keinen Pass vorzuzeigen, wenn wir Weideland für die Ziegen suchen. Kommt jemand dich besuchen, lassen wir nicht nur die mit Papieren vor. Man macht einfach, wozu man Lust hat und was man tun muss. Schließlich sind wir Menschen und keine Zahlen und Buchstaben auf einem Stück Papier! Für einen Nomaden spielt es keine Rolle, woher er kommt oder wohin er geht. Zahlen sind in der Wüste ohne Bedeutung. Ich habe einmal meine Mutter gefragt, in welchem Jahr ich geboren bin, aber sie konnte sich nicht erinnern.
»Ich habe so ein Gefühl«, sagte sie, »dass es geregnet hat, aber ich bin mir nicht sicher.«
»Mama, weißt du es nun, oder nicht?«
»Bitte, Kind«, beschwichtigte sie, »ich kann mich nicht erinnern. Warum sollte das wichtig sein?«
Gut, ich habe auch das Gefühl, in der Regenzeit zur Welt gekommen zu sein. Wissen Sie warum? Ich liebe Wasser und vor allem Regen. Ich liebe ihn so sehr, dass es sicherlich bei meiner Geburt geregnet hat. Aber wie alt ich bin, steht in den Sternen.
Als sich vor zwanzig Jahren mein Onkel einverstanden erklärte, mich als Hausmädchen mit nach London zu nehmen, sagte er: »Wenn ich dich mit nach London nehmen soll, brauchst du einen Pass.«
»Ja«, erwiderte ich, aber ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
Er ging mit mir irgendwohin, wo ein Foto von mir gemacht wurde, und am nächsten Tag hatte ich einen Pass. Die Buchstaben beachtete ich nicht, ich betrachtete nur mein Bild. Es war das erste Mal, dass ich mich selbst sah. Auf dem Foto blickte ich nicht in die Kamera, sondern zum Himmel. Ich wusste ja nicht, wo ich hinschauen sollte, und als der Fotograf sagte: »Mach die Augen auf«, wandte ich einfach die Augen nach oben. In Wirklichkeit habe ich sogar gebetet, weil ich nicht wusste, was vor sich ging. Erst Jahre später in London realisierte ich, was ein Pass war. Mein Onkel hatte wahllos irgendein Geburtsdatum eingesetzt, und ich weiß bis heute nicht, welches.
Jetzt ließ ich meinen Bruder in der Menge stehen. Ich musste mich unbedingt bewegen, irgendetwas tun. Also machte ich mich auf in den oberen Stock und fand heraus, dass es ein Hotel im Flughafen gab.
»Haben Sie noch Zimmer frei?«, fragte ich.
»Ja«, erwiderte der Mann an der Rezeption, »aber Sie müssen bar bezahlen.« Er benahm sich, als ob ich mir das Zimmer nicht leisten konnte.
»Ich möchte ein Zimmer«, erklärte ich.
»Es kostet hundertfünfzig Dollar pro Nacht... amerikanische Dollar«, fügte er hinzu, als sei das etwas Besonderes.
Himmel, dachte ich, bin ich froh, dass ich Geld habe! Ich nahm mir ein Zimmer, ohne mich um den Preis zu kümmern, weil ich so müde war. Es war ein schäbiger kleiner Raum mit billigen, dünnen Handtüchern und einer schmutzigen Decke auf dem Bett. Ich legte mich hin und begann zu weinen... unter anderem aus Sorgen um meinen kleinen Jungen. Er litt schließlich an einer Infektion, als ich diese verrückte Reise nach Nirgendwo antrat. Überall auf seinem süßen Köpfchen waren diese kahlen Stellen. Ich wusste die Ursache nicht und fragte mich, ob Gott mir damit ein Zeichen geben wollte. Vielleicht strafte er mich ja. Oh, ich hasse es, mich so hilflos und eingesperrt zu fühlen.
An den Flughafen von Abu Dhabi hatte ich, wie gesagt, böse Erinnerungen, und jetzt war ich trotzdem wieder hier. Sie haben mich von diesem Flughafen schon einmal weggeschickt.
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