Nomadentochter
sie für ihn in einer Tasse aufbewahrte. In Somalia gibt es keine Babyfläschchen. Wir drücken einfach die Wangen des Kindes sanft zusammen und halten ihm die Tasse so an den Mund, dass es die Milch tropfenweise schlucken kann. Mein Neffe hatte ein winziges, perfektes Mündchen, und es würde mir Freude machen, ihn so zu füttern. Meine Mutter schien allerdings unzufrieden zu sein. Leise murrte sie vor sich hin.
»Himmel, überlass ihr bloß nicht das Baby«, murmelte sie. »Soll sich das Kind etwa verschlucken? Weiß sie eigentlich, was sie vorhat?«
Ich blickte sie an und sagte: »Mama, für wen hältst du mich bloß? Findest du mich wirklich so hoffnungslos? Weißt du nicht, dass ich selber Mutter bin?«
»Hiiyea«, gab sie zu.
»Und ich bin schon über dreißig.«
»Hiiyea«.
»Hast du mich nicht selbst hier aufgezogen?«
Meine Mutter warf mir einen schrägen Blick zu: »Ja, das stimmt.« Aber es klang so, als habe sie kein Vertrauen zu mir.
»Komm und setz dich neben mich«, forderte ich sie auf. »Deine Worte beleidigen mich.« Sie reichte mir die Tasse, und ich fütterte das Baby. Es trank, ohne dass ein Tropfen der kostbaren Flüssigkeit an seinem Kinn herunterrann.
»Ach, Kind, ich habe es nicht so gemeint«, sagte meine Mutter. »Ich habe geglaubt, weil du jetzt so anders lebst, hast du vergessen, wie man mit Babys umgeht.«
Wahrscheinlich glaubte sie, ich hätte alles vergessen, was sie mir beigebracht hatte, deshalb antwortete ich: »Mama, ich habe mein Kind selbst großgezogen, und zwar auf traditionelle Weise. Du hast mich gelehrt, ein Baby zu füttern, und weil du es mir gezeigt hast, werde ich es nie vergessen. Bitte, denk nicht, dass ich nicht wüsste, wie man Kinder versorgt.«
»Es tut mir Leid, Waris«, sagte sie und schaute mich von der Seite an. Ich glaube, sie freute sich. Ihr Misstrauen hatte sich gelegt – es gefiel ihr, dass ich ihre Methoden und die Dinge, die sie mir beigebracht hatte, schätzte. Nur weil ich woanders wohnte, hatte ich doch nicht alles vergessen!
Ich verlasse mich am liebsten auf mich selber, denn in meiner Kindheit lernte ich zu improvisieren, was die meisten Menschen nicht können. Haare schneiden gehört auch dazu; also versuchte ich, meinem kleinen Bruder die Haare zu schneiden. Im Dorf gab es keinen Friseur, und Raschid beschwerte sich, dass seine Haare zu lang wurden.
»Vater fragt mich ständig, warum ich immer noch hier bin«, sagte er. »Ich muss zu den Tieren zurück. Wie soll ich hier sitzen und warten, bis ein Friseur auftaucht?«
Als ich jedoch zur Schere griff, schrien alle: »Nein, nein!«
»Was soll das heißen?«, fragte ich.
»Das kannst du doch nicht«, sagten sie.
»Natürlich kann ich Haare schneiden«, erwiderte ich. »Überlasst mir das ruhig.«
»Nein, Waris, darum geht es nicht«, meinte mein Vater und fuchtelte abwehrend mit den Händen.
»Um was dann?«
»Eine Frau darf einem Mann nicht die Haare schneiden.«
»Wovon redet ihr da?«, fuhr ich sie an. »Ist es nicht völlig egal, wer einem Mann die Haare schneidet? Merken die Kamele es etwa?«
Alle schrien: »Er würde ausgelacht.«
»Wer würde ihn auslachen?«, wurde ich grob. »Ihr? Seid ihr so?«
»Er würde eben ausgelacht«, beharrte mein Vater.
Ich konnte mit dieser Einstellung nichts anfangen und widersprach: »Aber wenn ich doch Haare schneiden kann, wo liegt dann das Problem?«
»Es bedeutet nichts weiter, Waris. Aber so ist es hier eben«, beendete mein Vater die Diskussion.
»Aba«, sagte ich, »beleidige bitte nicht meine Intelligenz. Ich kenne schließlich die Sitten und Kultur hier auch.« In diesen Themen prallten wir immer aufeinander, auch heute blaffte ich ihn und meine Brüder an: »Wann werdet ihr euch endlich ändern? Bei den Frauen ist es mit der Beschneidung genauso. Aber die Frauen sind bereit für modernere Ansichten.« Die Stimmung verfinsterte sich, als sei plötzlich eine Wolke vor die Sonne gezogen. Mir war klar, dass sie über dieses Thema nicht mit Frauen diskutieren wollten. »Ich fotografiere euch jetzt«, versuchte ich zu retten, was zu retten war. »Und doch glauben immer noch viele Leute hier, dass ich euch damit die Seele raube.«
»Ach, nur dumme Menschen!«, meinte Burhaan wegwerfend.
»Warum dulden die Gescheiten dann nicht, dass eine Frau einem Mann die Haare schneidet?« Immer wieder versuchte ich, sie zu überzeugen, aber es gelang mir nicht. Ich konnte sie noch so provozieren, sie würden sich einfach nicht ändern. Aber
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