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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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Arm in Arm kamen sie um die Ecke gebogen. Wenn man sie braucht, sind sie nicht da – aber auf einmal schlichen sie daher wie die Hyänen. »He, was macht sie da?«, fragten sie.
    Mohammed spielte sich wie üblich als Familienoberhaupt auf. »Nein, nein, so kannst du nicht gehen«, eröffnete er mir kategorisch. Wieder zupften und zerrten alle an mir herum. Schließlich gab ich nach und zog genau das an, was sie mir vorschrieben, nur damit ich endlich wegkam.
    Ragge hörte gar nicht mehr auf zu lachen, als wir durch das Dorf zur Schule marschierten. Ich sagte ihm, er solle endlich den Mund halten, sonst würde ich nicht in seine blöde Schule mitkommen. Aber er lachte so heftig, dass er einen Schluckauf bekam. Dies also war mein offizieller Antrittsbesuch in einem somalischen Schulraum mit zwei Löchern für die Fenster, einer wackeligen Holztür, mit Lehmboden und einem Wellblechdach. Ein großartiges Ereignis!
    Ungefähr hundert Kinder jeden Alters rannten herum. Ragge und sein Freund Ali, der sich als Direktor bezeichnete, fungierten als Lehrer. Ragge klatschte in die Hände und rief: »Kinder, stellt euch auf, die Schule beginnt.« Sie fangen nicht um eine bestimmte Uhrzeit an, sondern dann, wenn die Lehrer eintreffen. Sofort bildeten die Kinder Reihen und trippelten artig hinein. Die Mädchen sahen aus wie Blumen in ihren hellblauen und gelben Kleidern mit roten Schals. Die Muster waren ausnahmslos die gleichen, wahrscheinlich gab es im Dorf keinen anderen Stoff. Eins der Mädchen hatte ein kugelrundes Gesicht und abstehende Ohren. Sie warf mir einen offenen Blick zu und lächelte mich strahlend an, als sie an mir vorbeiging. Sie erinnerte mich an meine eigene Kindheit, weil sie so kühn war, mir direkt in die Augen zu blicken, und ich liebte sie dafür. Die meisten Jungen trugen so etwas Ähnliches wie alte Schuluniformen: weiße Hemden mit blauer Einfassung an Kragen und Manschetten. Manche Jungen hatten lange blaue Hosen an, die ihnen viel zu groß waren, sodass der Saum im Dreck schleifte. Erstaunlicherweise stolperten sie nicht darüber, wie ich das bei meinem Kleid ständig tat. Es waren so viele Kinder, dass der Raum summte wie ein Bienenschwarm. Da ich erst einmal abwarten wollte, bis sich alle gesetzt hatten, blieb ich in der Tür stehen. Es gab weder Stühle noch Tische noch Bücher im Klassenzimmer. Die Kinder setzten sich einfach auf den schmutzigen Boden. Ein paar hatten eine dünne Matte, aber die meisten saßen unmittelbar auf dem Lehm. Mit glänzenden Augen blickten sie nach vorne, begierig darauf, etwas zu lernen, obwohl es keine Unterrichtsmaterialien gab. Es machte mich stolz, dass mein Vetter ihnen etwas beibringen wollte. Ich konnte wirklich nicht verstehen, warum mein Vater und meine Brüder Ragge nicht trauten. Er saß nicht herum und beklagte sich den lieben langen Tag, sondern tat etwas dafür, bessere Verhältnisse zu schaffen.
    Ragge erklärte den Schülern die Wörter und wies mit einem langen Stock darauf. Es gab keine richtige Tafel, aber er hatte ein paar Holzbretter schwarz angemalt. Die Kinder hörten ihm aufmerksam zu. Sie merkten nicht einmal, dass ich sie fotografierte, so eifrig waren sie bei der Sache. Manche Jungen kauten auf ihren Bleistiften herum, aber die meisten Kindern hatten nichts! Wenn ein Kind einen Stift und ein Blatt Papier besaß, war es reich. Bei dem Gedanken daran, wie widerwillig die Kinder in New York oft zur Schule gingen, wurde ich richtig traurig. Ich hatte mir immer sehnsüchtig gewünscht, lesen und schreiben zu lernen; aber ich hatte nie die Chance dazu gehabt, weil ich mein ganzes Leben lang arbeiten musste, um mich zu ernähren. Nie saß ich regelmäßig in einem Klassenzimmer und hatte offizielle Lehrer. Alles, was ich weiß, habe ich mir selbst oder in sporadischen Kursen beigebracht. Während ich dem Unterricht lauschte, vergaß ich die Hitze und mein unbequemes Kleid. Schule ist seit jeher ein magischer Ort für mich gewesen.
    Ragge fragte, ob ich die Kinder begrüßen wolle. »Ich freue mich so, euch kennen zu lernen«, sagte ich. »Schule ist etwas Wunderbares, und glücklicherweise steht euch ein Lehrer zur Verfügung.« Die Kinder wollten wissen, wo ich lebte, und ich versuchte, ihnen von New York City zu erzählen. »Dort gibt es Häuser, die so hoch sind, dass ihr das Dach nicht sehen könnt. Auf den Straßen fahren viele Autos, und alles ist asphaltiert, sodass es kein Gras gibt.«
    Hände flogen hoch, und ein Junge fragte: »Was fressen

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