Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
Vom Netzwerk:
es machte mich nicht wirklich wütend. Da es mir genügte, mit meiner Mutter, meinem Vater, meinen Brüdern und all den Menschen zusammen zu sein, die ich seit langem nicht gesehen hatte, sagte ich nur: »Diesen Traum hege ich schon über dreißig Jahre lang. Das heißt, ich glaube zumindest, dass ich so alt bin. Genau weiß ich es nicht.«
    Mein Vater hob den Kopf und korrigierte: »Nein, ich glaube, du bist schon fast vierzig.« Mohammed und ich mussten lachen.
    Mama warf ein: »Das stimmt nicht! Burhaan ist ungefähr siebenundzwanzig, und sie sind nur einige Jahre auseinander.« Ihre Stimme erstarb, weil sie genauso wenig wie mein Vater unser Alter wusste.
    Es spielte keine Rolle, dass Daten meinen Eltern nichts bedeuteten. Ich saß hier unter den Sternen einer wunderschönen afrikanischen Nacht. Wie viele Sterne es am Himmel gibt, hatte ich ganz vergessen; oder vielleicht waren auch nur viele neue Sternenkinder geboren worden in der langen Zeit meiner Abwesenheit. Der Himmel war so klar, dass ich das Gefühl hatte, ihn mit Händen greifen zu können. Eine uralte Wahrheit – es gibt kein Gefühl, das dem gleichkommt, zu Hause zu sein! Oh, wie mir diese Vertrautheit gefehlt hat. Ich bedauerte es, so lange nicht da gewesen zu sein und nicht gesehen zu haben, wie die Menschen, die mir etwas bedeuteten, älter würden. Wie oft hätten sie mich brauchen können? Mein Vater sagte: »Mach dir wegen mir keine Sorgen, Waris, es ist nur das Alter. Ich bin immer noch stark. Morgen suche ich mir eine neue Frau und zeuge mit ihr noch ein paar Kinder, die die Ziegen hüten können.« Ich freute mich, dass er nach wie vor zu Scherzen aufgelegt war, und ich merkte auch, wie sehr er mir gefehlt hatte und wie sehr ich ihn liebte. Natürlich tat ich so, als sei ich ihm böse, und warf ihm vor, er habe mich davongejagt und er sei schuld, dass ich weglaufen musste; aber rückblickend würde ich nichts an meinem Leben ändern wollen. Und das meine ich ernst. Ich wünschte zwar, ich könnte die Zeit ein wenig zurückdrehen, aber ich bedauere nichts. Wir stolpern alle durchs Leben, und obwohl ich keine Schuhe hatte, um meinen steinigen Weg etwas abzupolstern, akzeptierte ich die Vergangenheit. Manche Zeiten sind hart gewesen, andere waren wundervoll, aber sie gehörten alle zu meiner persönlichen Entwicklung. Ich träumte früher häufig davon, dass meine ganze Familie an einem Ort zusammenleben würde, weil ich diese Erfahrung sehr vermisste. Aber jetzt hatte ich eine wunderbare Woche mit meiner Familie verbracht, und der Traum war vorübergehend Wirklichkeit geworden. Dafür dankte ich Allah.
Mit einem Mädchen schwanger zu sein heißt,
    mit einem Problem schwanger zu sein.
    (Somalische Redensart)

12

Somalische Ausbildung

    Das kleine Dorf meiner Mutter war voller Leute, die Mogadischu verlassen hatten, um Sicherheit zu finden. Sie waren vor Gewehrkugeln und den ständigen Straßenkämpfen geflohen. Das Dorf wuchs permanent, aber es gab nicht genug Wasser, keinen Strom, keine Ärzte, und das nächste Krankenhaus lag hunderte von Meilen entfernt. Als ich nach Schulen für die Kinder fragte, erklärte Ragge mir: »Ich unterrichte.«
    Neugierig hakte ich nach: »Wo denn? Ich wusste gar nicht, dass es hier eine Schule gibt.«
    »Komm, ich zeige sie dir«, bot er an. Letztes Jahr hatten Ragge und ein Stammesbruder aus Mogadischu beschlossen, ein Schulhaus zu errichten. Sie bekamen so viel Geld vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, dass sie einen viereckigen Raum mit Blechdach und Lehmfußboden bauen konnten. Ragge war in Mogadischu zur Schule gegangen, wo mein Onkel früher als Geschäftsmann gearbeitet hatte. Er beherrschte Somali, Arabisch, Italienisch und Englisch. Da er keinen Job bekam, hatte er sich vorgenommen, Kinder zu unterrichten. Sein Englisch war hervorragend, und ich unterhielt mich gerne mit ihm.
    »Morgen früh hole ich dich auf dem Weg zur Schule ab«, versprach er. »Sieh zu, dass du fertig bist.«
    »Okay, ich tue mein Bestes!« Ich freute mich schon darauf, ihn bei seiner Arbeit unterstützen zu können.
    Die Ziegen warfen noch lange Schatten, als er am nächsten Morgen vor unserer Hütte erschien. »Bist du bereit?«
    »Natürlich«, rief ich und kam heraus. Ich stand jeden Morgen so früh auf. Um sechs Uhr hatte ich bereits gefrühstückt und war angezogen. Man macht sich keine Gedanken darüber, wie spät es jeweils ist, wenn man mit den ersten Sonnenstrahlen aufsteht und sich bei Sonnenuntergang schlafen

Weitere Kostenlose Bücher