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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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besessen ist.
    Sie jagen zusammen, bis Apollon sich einmischt und einen riesigen Skorpion auf ihn hetzt; gegen den Panzer dieses gräßlichen Tiers kann er nichts ausrichten. Orion flüchtet ins Meer, das Meer seines Vaters, aber was bleibt einem Sterblichen, wenn die Götter gegen ihn sind? Apollon erzählt Artemis, der Schwimmer im Meer sei ein anderer, der Mann, der eine ihrer Priesterinnen verführt habe. Die Göttin zielt auf den Kopf des fernen Schwimmers und tötet ihn, doch als sie sich dem Leichnam nähert, sieht sie, daß es Orion ist, und sie bittet Asklepios, den Sohn des Apollon, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Als dieser das tun will, schleudert Zeus seinen Blitz und tötet Orion für alle Zeiten. Artemis setzt sein jederzeit erkennbares Bild zwischen die anderen Sterne, wo es immer noch Nacht für Nacht vom Skorpion verfolgt wird, und so sehe ich ihn jetzt am kalten, klaren Himmel, einen Mann, zu schön, um leben zu dürfen, ein Opfer der Frauen, für immer auf der Jagd zusammen mit Sirius, seinem Hund, dem flackernden Stern zu seinen Füßen. Ich weiß, wie alle seine Sterne heißen, daß eine seiner Schultern Beteigeuze ist, viele hundert Male so stark wie die Sonne, ich weiß, wie weit die Sterne seines Schwertes und seines Gürtels voneinander entfernt sind und daß sie einst, in unvorstellbaren Jahrtausenden, durch die Gesetze des Alls auseinanderwachsen werden, bis nichts mehr von ihm übrig ist, ein verlorener Jäger, von der Zeit auseinandergerissen, aber das tut seinem Reiz keinen Abbruch, das Bild und die Geschichte sind stärker, auch heute noch. Er ist mein Schutzheiliger, das am besten erkennbare Sternbild, ich freue mich immer, wenn ich ihn sehe, einen Sterblichen, der von Göttinnen geliebt wurde und die Götter gegen sich hatte.

Pastorale
    J etzt, wo der Schnee fort ist, kommen die Vögel. Die Bäume vor dem Fenster sind kahl, ihre Rinde voller Schuppen und Krusten, bewachsen mit Moos, in dem für die Kohlmeisen offenbar noch genug zu holen ist. Auf dem mit einemmal wieder grünen Feld liegen braune Blätter, abgebrochene Äste. In der Ferne letzte Stellen mit Schnee, Nebelwolken. Jetzt kommt ein Eichelhäher, schaut sich erst um, hüpft hin und her, beginnt dann plötzlich am Boden zu picken, Eicheln gibt es um diese Jahreszeit nicht, aber kleine, unsichtbare Dinge, wie es aussieht keine Würmer. Er tut, was Menschen arbeiten nennen, für den Lebensunterhalt sorgen. Es ist das gleiche, als würden wir morgens aufstehen und auf etwas komplizierte Weise unsere Nahrung zusammensuchen und damit von früh bis spät beschäftigt sein. Warum der Eichelhäher diesen Fleck auswählt und nach einer Weile unvermittelt davonfliegt, weiß ich nicht, er hat nur ein paar Quadratmeter der großen Weide untersucht, obwohl es doch so viel mehr sind. War das eine Vorspeise und ist der Hauptgang irgendwo anders zu finden? Eines ist klar, was für mich Aussicht ist, Wiese, Bäume, in der Ferne die Berge, ist für Meise und Eichelhäher Fressen. Eichelhäher ist ein potentielles Gericht für den Fuchs, Meise eine Mahlzeit für Eule und Bussard. Die Natur ist eßbar. Alles steht bereit.

Poseidon X
    I n der Sammlung der englischen Königin befindet sich eine Zeichnung von Leonardo da Vinci, auf der du wütend dargestellt bist. Die Reproduktion läßt es nicht gut erkennen, aber ich denke, es ist eine Bleistiftzeichnung. Anscheinend wurde sie schnell aufs Papier geworfen, vielleicht um deiner Rage besser Ausdruck zu verleihen. Krause, ineinander verschlungene Bleistiftlinien, die teilweise in die wilde Gischt und die Schweife und Mähnen des Viergespanns greifen, mit dem du über den Ozean rast. Den Arm mit dem Dreizack hast du in die Luft gereckt, doch die Bewegung verläuft nach unten, als wollest du die ohnehin schon so wilden Pferde mit den scharfen Spitzen noch weiter antreiben. Du bist wütend auf Odysseus, der einem deiner Nachkommen ein Auge ausgestochen hat, obwohl dieser ohnehin nur eines besaß, das ist unverzeihlich. Der unglückliche Polyphem hatte noch nach dem Namen desjenigen gefragt, der ihm dies antat, und Odysseus hatte ihn mit seiner Antwort, er heiße Niemand, auf ewig zum Gespött gemacht und war unter dem Bauch eines Schafes aus der Höhle des Einäugigen geflohen, der seine Gefährten getötet hatte. Niemand entrinnt der Rache der Götter, doch wenn dieser Niemand Odysseus heißt, wirst du ihn jahrelang verfolgen, jagen, gefangennehmen, zu ertränken versuchen, bis Athene, die

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