Nooteboom, Cees
flämischen Leib. Der Gott ist verliebt. Ihm fließt ein langer weißer Bart über die Brust, wohin er schaut, ist unverkennbar, der Blick selbst ist melancholisch und voller Verlangen. Seine linke Schulter berührt fast die rechte Brust der Göttin, die ihn nicht ansieht. Es ist eine wunderliche Gesellschaft. Im Hintergrund umklammert ein Mann einen anderen, der das Wasser aus dem Gehäuse eines riesigen Nautilus leert, die Göttin hat eine Hand locker auf eine Große Riesenmuschel gelegt, in der ein kleineres, perlmuttfarbenes Nautilusgehäuse neben einer Cypraea und einigen weiteren Muscheln liegt, Attributen des Meeresgottes. Sie erfreut sich an etwas, von dem wir nichts wissen, mit leicht geöffnetem Mund und gleichfalls geöffneten Augen, dochohne etwas zu sehen. Der oberste Teil des göttlichen Dreizacks muß sich irgendwo außerhalb des Gemäldes befinden, Rubens wußte, jeder Betrachter würde das Fehlende mit dem inneren Blick ergänzen. Das wußte auch der junge Mann, der später aus dem Immer-mehr-Weglassen das wesentlichste Element seiner Kunst machen sollte, sein letztes Buch zählt nur noch zehn Seiten und beschreibt sein Ende, während er es erlebt.
Er ist bereits seit Wochen in Berlin. Er ißt sparsam und schläft in einfachen Pensionen, ein Mann, allein auf einer Mission. Seine Briefe aus jener Zeit zeigen, daß er die deutsche Sprache perfekt beherrscht. Nazizeitungen kann er lesen, die Hakenkreuzfahnen gehören zum Stadtbild. Er sieht alles und verwahrt es in seinem Gedächtnis. Kilometerweit läuft er durch die bitterkalte Stadt, nach einer eisern befolgten Methode arbeitet er Museum für Museum ab und schreibt jeden Tag seine Beobachtungen nieder, kurze Beschreibungen und Bewertungen. Sein Lieblingsmaler ist Adriaen Brouwer, eine trübselige Landschaft, drei Männer, verloren in einem Ballspiel, ein paar Häuser in der Dämmerung, an einem düsteren Himmel ein wilder Lichtfleck. In späteren Kommentaren wird es heißen, in seinen Bühnenbildern seien Caravaggios Tenebrismus und Rembrandts Helldunkel wiedergekehrt. Fast vierzig Jahre später wird er in ebendieser Stadt bei seinem Stück Warten auf Godot Regie führen. Das Gemälde mit dem Meeresgott wird er dann nicht mehr wiedersehen.
Poseidon IX
W as sind eigentlich Namen? Ein Name benennt ein Ding oder ein Wesen, ohne daß dieses sein Name auch ist . Wir tragen unsere Namen, sind sie aber nicht. Wir verlassen unsere Körper und nehmen die Namen nicht mit, sie bleiben zurück als leere Hülsen oder als Worte auf einem Grabstein. Oder umgekehrt, unser Körper stirbt, und das, was unserer Ansicht nach wir waren, hält es ohne Körper nicht aus und verschwindet in der gleichen Abwesenheit wie vor unserer Geburt.
Ich komme darauf, weil ich wissen wollte, woher dein Name stammt. Cicero möchte sich die Finger daran nicht verbrennen, in einem endlosen, aber listigen Dialog über Götter weigert er sich, Stellung zu beziehen, läßt jedoch durch einige abfällige Bemerkungen erkennen, daß er sich schwertut mit euch höchsten Wesen, mit der Macht, die ihr über uns habt, mit eurer Abstammung und somit auch mit euren Namen. Dann hat er deine griechische Herkunft vergessen und spottet ein wenig über deinen lateinischen Namen; »obwohl« – sagt Carneades zu Balbus –, »wenn Du meinst, Neptun habe seinen Namen vom Schwimmen (nando), so gibt es zuletzt keinen Namen, bei dem man nicht aus einem seiner Buchstaben rechtfertigen könnte, woher er entnommen sei; ja Du selbst scheinst mir bei solchem Versuche mehr zu schwimmen als Neptun!« Kurz davor geht es in diesem Buch um die Götter, die Gott sind, obwohl sie von sterblichen Müttern geboren wurden, und dann spricht er von deinem Sohn Theseus und »anderen, deren Väter Götter sind« – sollen sie »nicht zu den Göttern gerechnet werden?«
Gib zu, es ist seltsam, Tod und Leben zu vermischen, denn daraufläuft es hinaus, wenn man ein Kind mit jemandem zeugt, der irgendwann sterben muß. Es gleicht einer höheren Form des Sich-gemein-Machens, Unter-seinem-Stand-Heiratens, hier freilich mit tödlichen Folgen für das eigene Kind.
Hatte Cicero Platons Kratylos gelesen, den Dialog, der sich mit dem gleichen Thema befaßt? Das bekannte Verfahren: Sokrates, der bereits alles weiß, führt seinen Gesprächspartner an der Nase herum, bis der Arme mürbe ist und Sokrates demütig in allem recht gibt. Mein Griechisch ist derart eingerostet, daß ich dazu eigentlich nichts zu sagen wage, aber dennoch
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