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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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habe ich das Gefühl, hier werde die Etymologie in einer Weise travestiert, daß jeder Einfall Gültigkeit zu haben scheint. Der arme Kratylos, der in dem Dialog untergeht, denkt, es sei eine übernatürliche Macht, die die Namen verteilt, weshalb diese allein schon deswegen stimmen müssen. Damit hat er sich die Falle bereits selbst gestellt, denn der jesuitische Sokrates fragt daraufhin: »Hältst du es für möglich, daß der Namengeber, sei er nun ein Dämon oder ein Gott, bei der Wortbildung sich selbst in Widersprüche verwickelte?« Kratylos versucht sich mit der Antwort herauszuwinden, manche Wörter seien im Grunde gar keine Namen, doch schon steht die nächste Falle bereit, und das Gespräch köchelt auf diese Weise weiter, bis Sokrates ausruft: »Doch halt, beim Zeus! Haben wir nicht wiederholt übereinstimmend erklärt, die wohlgelungenen Worte seien den Dingen, deren Namen sie sind, ähnlich, seien also Bilder der Sachen?« Für Dinge darf man hier auch Menschen lesen, denn bereits zuvor hat er ebendiesen Kratylos mit der Frage in die Falle gelockt, ob das zwei verschiedene Dinge seien, Kratylos und das Bild von Kratylos. Kratylos entscheidet sich für die zweifache Ausführung seiner selbst, was ihn jedoch noch lange nicht aus seinem Leiden erlöst, erst nach beinahe hundert eng bedruckten Seiten wird er von Sokrates aufs Land entlassen, wahrscheinlich um dort wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Inzwischen ist auch dein Name gefallen, denn Sokrates denkt laut, daß dir dein Name von dem gegeben wurde, der ihn als erster benutzte, weil die Kraft des Meeres ihn beim Gehen beeinträchtigte und du eine Art Klammer ( desmos ) um seine Füße ( podoon ) gelegt hattest. So gelangt er über posidesmon zu deinem Namen und sagt, das e müsse aus Gründen des Wohllauts eingefügt worden sein. Ich versuche, es mir vorzustellen. Einst, vor undenklicher Zeit, als du noch nicht Poseidon hießest, läuft ein Mann irgendwo am Strand entlang. Dann und wann geht er bis zu den Knöcheln im Wasser, wie ich selbst es so gerne tue, spürt die Sogkraft der See an seinen Füßen und ersinnt deinen Namen, eine Geschichte wie ein kleines Gedicht. Doch vielleicht stimmt das nicht, sagt Sokrates dann sofort, um sein eigenes Spiel zu verderben, und denkt sich etwas noch viel Komplizierteres aus in dem Versuch, deinen Beinamen Erderschütterer zu erklären.
    Weil du mir nie antwortest, werde ich nie erfahren, was du von alledem hältst, aber wenn ich, wie gestern am Strand bei IJ muiden, auf die graue, sich langsam in sich selbst bewegende Nordsee starre, denke ich, daß du dich da ruhig in den Wellen wiegst und dir wahrscheinlich keinerlei Gedanken darüber machst, und damit bin ich wieder beim Ausgangspunkt: Was sind eigentlich Namen?

Orion
    Z u mitternächtlicher Stunde, hier, im germanischen Winter am Rande der Alpen, sehe ich ihn wieder, Orion, den blinden Jäger, den Mondmann aus den Bergen, Poseidons Sohn, den schönsten Mann, den es je gab, ins Bett gelockt von der unersättlichen Eos, der Morgenröte, die von unstillbarer Begierde gequält wurde als Strafe dafür, daß Aphrodite sie mit Ares, dem Gott des Krieges, im Bett erwischt hatte. Ich kenne Orion von Winternächten in Amsterdam, wenn ich seine Gestalt über einer der Grachten sehe. Dann ist er ein Wintermann, hoch und kühl, stets unterwegs mit seinen Hunden, doch im August begegne ich ihm wieder auf meiner spanischen Insel, dort erscheint er am Ende der Nacht, kurz nachdem die Plejaden über dem Horizont aufgetaucht sind, und entflieht ins Licht der Morgenröte, die ihn einst verführte. Frauen waren sein Verhängnis. Er ist das deutlichste und zugleich traurigste unter allen Sternbildern, vielleicht liebe ich ihn deshalb so. Auf Chios hatte er sich in Merope verliebt, die Enkelin des Dionysos und Tochter des Königs Oenopion. Er sollte sich mit ihr vermählen dürfen, sobald er die wilden Tiere von der Insel verjagt hätte. Es ist eine Geschichte niederträchtigen Betrugs, denn nachdem er alle Tiere verjagt hat, sticht Oenopion ihm die Augen aus, um ihn nicht als Schwiegersohn zu bekommen. Orion, jetzt blind, rudert nach Lemnos und findet dort in der Schmiede des Hephaistos einen Lehrling, der ihn auf seinen Schultern über die halbe Welt bis ans Ende des Ozeans trägt, wo Eos sich in ihn verliebt und ihr Bruder, der Sonnengott, ihm das Augenlicht wiedergibt. Jetzt will er sich an Oenopion rächen, begegnet indes auf seiner Suche Artemis, die wie er von der Jagd

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