Nooteboom, Cees
Tochter deines Bruders Zeus, dem ewig auf der Flucht befindlichen Helden zu Hilfe eilt und er endlich nach Hause darf, zuerst nach Ithaka, danach in den großen Geschichtenschatz der Welt, wo man sich seine Abenteuer bis in alle Ewigkeit stets von neuem erzählen wird. Diesmal jedoch geht es nicht um dich, sondern um deine Pferde. Seepferdchen sind bekanntlich sehr kleine Tiere, sicherlich zu klein, um einen Gott zu befördern, und doch sagt die Geschichte, dein goldener Meereswagen sei mit vier riesigen Hippocampi bespannt gewesen. In Sagen und Mythen hat »groß« oder »klein« keine Bewandtnis, die Wirklichkeit kann nach Belieben geschrumpft oder gedehnt werden, das ist das Vorrecht des Fabulierers. Aber wenn du deinen Seepferden so nah warst, hast du dann auch ihre Geheimnisse entdeckt? Wußtest du, daß das Seepferdchen die einzige Tierart ist, bei der die Männer trächtig werden? Hast du schon einmal gesehen, wie in den ruhigen Tiefen deiner endlosen Meere Seepferdchen einander umwerben, indem sie in ihrer geheimnisvollen vertikalen Haltung den letzten Schnörkel ihrer unglaublich biegsamen Schwänze ineinanderhaken und so zusammen tanzen? Aristoteles war ihrem Geheimnis auf die Spur gekommen, er mag bereits gewußt haben, daß das winzige Wundertier mit diesem merkwürdigen pferdeähnlichen Kopf ein Fisch ist mit Kiemen, er kannte die Geheimnisse der verwandten Seenadeln, konnte aber nicht unter Wasser schauen und den Augenblick der Befruchtung sehen, wenn zwei Seepferdchen ihre zierlichen Köpfe einander zuwenden, Lippen und Bäuche sich berühren, so daß sie zusammen ein Herz bilden, und das Weibchen eine Art Hohlröhre aus sich hervorzaubert und diese in eine Öffnung am Bauch des Männchens drückt, alles noch immer, ohne einander loszulassen. Sie heben ihre eleganten Pferdeköpfe, die Rücken sind gekrümmt, dies ist ein Augenblick großer Spannung, nach vielleicht tagelangem Umwerben ist die Paarung in sechs oder sieben Sekunden vorbei, dann hat das Weibchen seine mit Eiern gesättigte Flüssigkeit in das Männchen gespritzt, und sobald dieses damit gefüllt ist, läßt der solchermaßen Geschwängerte seine festliche Balztracht chamäleonartig verblassen und trollt sich von dannen. Er schuckelt und schaukelt noch ein wenig, bis die Eier da sind, wo sie hingehören, in einer Art innerem Zuchtteich, drei Wochen später wird er erfahren, was kein Mann auf der ganzen Welt je erfahren hat, die Schmerzen des Gebärens.
Lesen Götter Philosophen? Kennst du deinen stoischen Seneca, sein De ira ? Ich kann mir nicht vorstellen, daß du, auch wenn du noch so wütend auf Odysseus warst, dein Viergespann mit dem Dreizack derart bedroht hast wie auf dieser Zeichnung von Leonardo. Und was mich selbst betrifft, ich kann mich nicht mehr, wie ich es so oft getan habe, frühmorgens auf der Insel auf einen Felsen am Meer setzen, ohne an die rituelle Choreographie zu denken, die sich vielleicht in diesem Moment in unsichtbarer Tiefe vollzieht.
Gespräch
D er Kaiser fragt den Prinzen, welche Art Frau die Schriftstellerin eigentlich ist. Eine ungeheure Intrigantin, antwortet der Prinz, ihr habe ich meine Position hier zu verdanken, das beweist genug. Also doch eine gute Freundin, sagt der Kaiser. Die? Eine Freundin? Die ist imstande, ihre Freunde in den Fluß zu werfen, um sie dann an einem Angelhaken wieder herauszufischen. Man muß das Glück gehabt haben, mit ihr ins Bett gegangen zu sein, um zu wissen, wie es ist, ein Tier zu lieben. Der Kaiser sagt nichts mehr.
Einige Jahre später, als der Kaiser nicht mehr Kaiser ist, der Prinz aber immer noch Prinz, erhält der Prinz die Nachricht von ihrem Tod, und er vervollständigt ihr Porträt: »Phantastisch in ihrem Haß wie in ihrer Freundschaft, in ihren Geschmäckern wie in ihren Wutausbrüchen, war viel in ihr von einer alten, verpatzten Kokette.«
Agave
V ierzig Jahre lang stand sie in meinem spanischen Garten, sie war schon da, als ich kam. Gegrüßt hat sie nicht, auch nichts gefragt. Ich gab ihr Wasser in den Sommermonaten, doch sie ließ erkennen, daß sie kaum etwas brauchte. Sie speichert es in ihren Blättern. Dort wird es giftig, für uns, nicht für sie. Im Pflanzenbuch steht, daß sie eine Sukkulente ist ohne Stamm, mit großen, kräftigen, grundständigen Blattrosetten, eine Beschreibung, die sie wahrscheinlich zu romantisch findet. Ihre Blätter sind langgestreckt, zwischen dem Ansatz und der Mitte verschmälert, sie sind dickfleischig, stielförmig
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