Nora Morgenroth: Der Hüter
soll … Ich muss etwas Bestimmtes wissen. Also, äh, kann es sein, dass in dem Haus einmal ein Mann gewohnt hat mit einem kleinen Sohn?»
Frau Martensen blickte mich verblüfft an.
« Wie kommen Sie denn darauf, meine Liebe? Na, ist ja auch egal. Nein, also, lassen Sie mich einmal überlegen. Wir haben seit den Sechzigern dort gewohnt, mein Mann und ich und dann später mit Birte und Freya natürlich. Einen Sohn hatten wir nie. Und vor uns?»
Schließlich schüttelte sie den Kopf.
«Nein, da muss ich passen, daran erinnere ich mich nicht mehr. Es war wohl auch eine Familie, aber ob die Kinder hatten, und ob Jungen dabei waren? Nein, tut mir leid. Ich weiß es einfach nicht mehr!»
« Macht ja nichts. Es war nur eine Frage.»
« Und warum das für Sie so wichtig ist, dass Sie extra hierherkommen, das wollen Sie mir nicht verraten?»
Ich schüttelte den Kopf.
«Es tut mir leid, aber das kann ich einfach nicht. So wichtig ist es auch nicht.»
Wenig später bat Frau Martensen darum, dass ich sie wieder ins Haus begleitete. Wir verabschieden uns und ich fuhr heim, nicht ohne der alten Dame zu versprechen, dass ich bald wieder käme. Das war das Wenigste, das ich tun konnte, um einem alten Menschen ein wenig Zerstreuung und Abwechslung zu bescheren. Ich nahm mir vor, dass ich beim nächsten Mal Kuchen mitbringen würde und vielleicht ein paar Blumen aus dem Garten.
Während ich Vallau durchquerte, um zurück auf die Autobahn zu gelangen, überlegte ich kurz, ob ich Hedda anrufen sollte. Vielleicht waren sie zuhause und ich konnte fragen, ob sie Zeit für einen spontanen Besuch hatte. Meine kleine Nichte hatte ich seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen. Bald war sie nun auch schon ein Jahr auf der Welt. Die Zeit verging so schnell!
Doch ich verwarf den Gedanken wieder und fuhr weiter. Viola hätte ich gern gesehen, aber auf eine Unterhaltung mit den Erwachsenen war ich nicht so erpicht. Zu viel ging mir jetzt im Kopf herum. Ich wollte einfach meine Ruhe haben und über alles nachdenken.
Als ich nach Hause kam, blinkte der Anrufbeantworter, der auf dem Telefontisch in der Diele stand. Als hätten unsere Gedanken sich vorhin überschnitten, fand ich darauf eine Nachricht von Hedda vor. Sie lud uns ein, am kommenden Sonntag zum Kaffee zu kommen, ich solle mich doch noch einmal melden, ob es klappte. Die zweite Nachricht stammte von Oliver, der mir mitteilte, dass er vergeblich versucht hätte, mich auf dem Handy zu erreichen. Wo ich denn steckte? Er käme heute leider später als gedacht, ein neuer Fall halte sie in Atem.
Da mein Magen bereits auf der Fahrt vernehmlich geknurrt hatte, ging ich in die Küche und inspizierte den etwas trostlosen Inhalt unseres Kühlschranks. Eigentlich hätte ich längst einkaufen sollen, aber irgendwie hatte ich diesen Plan aus den Augen verloren. Auch das Tiefkühlfach gab nicht viel mehr her als eine angebrochene Tüte Erbsen, eine Pizza mit scharfer Salami, die ich nicht mochte und eine gefrorene Ente, die mindestens einen Tag zum Auftauen brauchte. In der kleinen Vorratskammer neben der Küche fand sich schließlich noch eine Dose Ravioli. Wenn mich nicht alles täuschte, dann gehörte die Dose noch zu dem Inventar, mit dem Oliver aus seiner Junggesellenbude eingezogen war. Ich beschloss, nicht auf das Haltbarkeitsdatum zu achten. Meine Großmutter hatte immer gesagt: Kind, verlass dich auf deine Sinne. Deine Nase wird dir schon sagen, ob etwas noch gut oder schon schlecht ist. Wie wollen die in der Fabrik wissen, wie lange sich das halten wird?
Also öffnete ich die Dose und schnupperte. Die Sauce schien in Ordnung zu sein. Ich kippte den Inhalt in einen kleinen Topf und stellte ihn auf den Herd. Während die Ravioli langsam warm wurden, lief ich nach oben ins Schlafzimmer, um das Buch zu holen, in dem ich gerade las. Als ich die Tür öffnete, schlug mir ein fremder, muffiger Geruch in die Nase. Es roch ungewohnt nach alter, ungewaschener Kleidung. Muffig und modrig, irgendwie streng. Ich schnupperte. Das hatte ich doch schon einmal gerochen, konnte mich aber nicht erinnern, wann oder wo das gewesen war. Ich sah erst unter und dann hinter das Bett, konnte aber nichts entdecken. Schließlich öffnete ich das Fenster und ging wieder nach unten.
Ich aß einen Teil der Ravioli und las dabei ein paar Seiten, dann stand ich auf und ging durch das noch unfertige Wohnzimmer hindurch, öffnete die Terrassentür und trat hinaus in den Garten. Ich fühlte mich ruhelos, etwas musste
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