Nora Morgenroth: Der Hüter
ich noch tun an diesem Tag. Die Uhr in der Küche hatte eben sechs Uhr angezeigt. Oliver würde nicht vor zehn Uhr kommen, vielleicht noch später. Wenn sie gerade in einem neuen Fall ermittelten, konnte es in der heißen Phase vorkommen, dass er es gar nicht nach Hause schaffte. Normalerweise war mir das egal, oder nicht egal, aber ich akzeptierte es. Er war nun einmal Polizist und das mit Leib und Seele. Das hatte ich von Anfang an gewusst und ich liebte Oliver ja auch, weil er nun einmal so war. Ihm waren die Fälle und ihre Opfer nicht gleichgültig. Darum hatte er meine Behauptungen bei unserer ersten Begegnung auch nicht abgetan, obwohl er mir durchaus einen Vogel hätte zeigen können. Er untersuchte einfach alles, egal, was es war. Hauptsache, es brachte ihn auf die Spur eines vermeintlichen Täters. Was es auch immer war, woran er jetzt arbeitete, er würde nicht eher ruhen, bevor seine Arbeit nicht getan war.
Es war natürlich viel zu früh, um schon ins Bett zu gehen, auch wenn ich mich schon wieder so eigenartig müde und erschöpft fühlte. Das Beste würde sein, wenn ich das Gefühl ignorierte und körperlich arbeitete. Vielleicht würde ich dann in der Nacht auch besser schlafen.
Ich blickte um mich. Die Terrasse war erst vor wenigen Jahren aus Natursteinen neu angelegt worden. Man konnte ohne Weiteres erkennen, dass jemand mehr Arbeit in den Garten investiert hatte als in das Haus. Die Vorbesitzerin hatte ja zuletzt auch viele Jahre allein hier gelebt, sie konnte unmöglich alle Zimmer nutzen. Allem Anschein nach hatte sie sich vornehmlich in der Küche und im Schlafzimmer im Obergeschoss aufgehalten, das nun unseres war. Und im Garten. Der größere Teil, in dem ich mich jetzt befand, lag hinter dem Haus. Im Anschluss an die Terrasse war ein Beet mit üppigen Stauden angelegt, das von einem gepflasterten Weg durchschnitten wurde. Noch blühte nicht viel. Zwischen den Stauden schoss das Unkraut in die Höhe. In den letzten Wochen hatte es oft geregnet und seit ein paar Tagen war es wärmer geworden. Die Sonne schien wie schon in den vergangenen Tagen. Alles wuchs wie verrückt. Ich musste erst noch lernen, das Unkraut wirklich zuverlässig von den richtigen Pflanzen zu unterscheiden, bevor ich mit dem Rupfen anfing. Löwenzahn erkannte ich, Brennnesseln und Schachtelhalme, aber da endeten meine botanischen Kenntnisse auch schon. Ich war eben ein richtiges Stadtkind. Es wurde Zeit, dass ich das änderte.
Über d en schmalen Plattenweg gelangte ich auf den Rasen, der den Ausmaßen nach eher schon eine Wiese war. Alles war von einem jahrzehntelang gewachsenen Wall aus Sträuchern und Hecken eingefasst. Vereinzelt standen alte Obstbäume, oder was ich dafür hielt, auf dem Rasen. Ganz am Ende des Grundstückes befand sich das durch eine halbhohe Ligusterhecke abgetrennte Gemüsebeet, von dem ich noch nicht so recht wusste, was ich damit anfangen sollte. Auch wenn ich das Leben im Grünen längst schon schätzen gelernt hatte, sah ich mich noch nicht als Bäuerin, die ihre Karotten oder Tomaten selbst zog. Ich konnte mir durchaus vorstellen, dass das Spaß machen würde, aber auch davon verstand ich leider rein gar nichts. Andererseits: Wie schwer konnte das schon sein?
Nun stand ich also tatendurstig in der Mitte des Rasens und wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Es sah eigentlich alles ganz schön aus, so wie es war, nur eben etwas verwildert.
Hinter dem Gemüsebeet befand sich ein kleiner Geräteschuppen. Ich ging um die Hecke herum, öffnete die Tür und wollte eintreten. Ich schrak zurück. Mitten im Türrahmen, genau über meinem Kopf, baumelte eine fette, schwarze Spinne. Sie hing dort so entspannt und selbstverständlich, als hätte sie seit Jahren nur auf mich gewartet.
Es war albern, aber ich ging tatsächlich einen Schritt zurück. Nur sicherheitshalber. Meine Nackenhaare hatten sich aufgestellt. Ich mochte eigentlich alle Tiere und nahm, soweit das möglich war, auch auf die kleinsten Rücksicht. Auch auf jene, die nur krabbelten. Aber mit Spinnen konnte man mich meilenweit jagen. Ich sah mich suchend um. Zu dumm, dass Oliver nicht da war. Der wusste natürlich von meiner Phobie und spielte sich im Scherz jedes Mal als kühner Retter auf, sobald ich kreischte: «Oliver, eine Spinne!»
Schließlich entdeckte ich einen etwa armlangen Ast, mit dessen Hilfe ich die Spinne in das nächste Gebüsch beförderte. Dann war der Weg endlich frei. Ich sah mich trotzdem vorsichtig nach allen Seiten
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