Nora Morgenroth: Der Hüter
seitdem ich Frau Martensen bei der Hausübergabe zuletzt gesehen hatte, war sie sehr gealtert. Vielleiht lag das am Heim, so wie bei Großmutter damals. Oder war das vielleicht immer so, ganz am Ende des Lebens, überlegte ich. Vielleicht war dieser Prozess ganz natürlich, ähnlich wie bei Babys, die am Anfang ihres Lebens in wenigen Monaten große Veränderungen durchmachten – nur jetzt eben in umgekehrter Reihenfolge?
Im Herbst war Frau Martensen zwar vorsichtig, doch eigenständig gegangen. Jetzt stützte sie sich auf einen Gehwagen, den sie langsam vor sich herschob. Ich sprang auf und ging auf sie zu. Sie erkannte mich erst, als ich direkt vor ihr stand.
« Frau Morgenroth, das ist aber eine nette Überraschung!»
Die alte Dame schien so ehrlich erfreut über meinen Besuch zu sein, dass m ich sofort ein schlechtes Gewissen beschlich. Ich war mit einem Hintergedanken hergekommen. Wenn mich nicht diese finsteren Bilder gequält hätten, dann wäre ich wohl niemals auf den Gedanken gekommen, die greise Vorbesitzerin unseres Hauses zu besuchen. Dabei hätte ich mir nun wirklich ausmalen können, was es bedeuten mochte, das Haus, in dem man den größten Teil seines Lebens verbracht hatte, hinter sich zu lassen. In ein einziges Zimmer zu ziehen, in einem Heim, egal, wie nett und fürsorglich es geführt wurde. Stattdessen hatten wir uns in Frau Martensens Haus breit gemacht und sie vergessen.
Das war wohl der Lauf der Dinge und natürlich gehörte das Haus nicht mehr der alten Dame, sondern Oliver und mir. Trotzdem krampfte mein Magen sich vor Mitgefühl zusammen. Ich streckte meine Hand aus.
«Hallo, Frau Martensen, wie geht es Ihnen denn?»
Die Hand der alten Dame fühlte sich an wie ein nacktes Vögelchen. Trocken und zart und zerbrechlich. Dennoch war ihr Händedruck noch erstaunlich kräftig. Sie lächelte.
« Ach, wie es eben geht. Ich kann mich nicht beklagen, die kümmern sich ganz nett hier, das kann man nicht anders sagen. Aber was führt Sie denn hierher?»
« Um ganz ehrlich zu sein, muss ich Sie etwas fragen. Aber wollen wir uns nicht irgendwo hinsetzen?»
Frau Martensen sah mich prüfend an.
« Da machen Sie mich jetzt aber neugierig. Wissen Sie was? Ich sitze den ganzen Tag herum. Lassen Sie uns ein paar Schritte in den Park gehen. Sie müssen nur etwas Geduld haben, so schnell wie früher geht es nicht mehr.»
« Das mache ich gern, Frau Martensen, es ist ja auch ein herrlicher Tag.»
Im Schneckentempo verließen wir das Hauptgebäude durch eine rückwärtige Tür und gelangten auf einen breiten Weg, der in die Grünanlagen führte. Verstreut sah man die älteren Gäste, die sich einzeln oder in kleinen Gruppen bewegten oder auf den Bänken saßen, die alle paar Meter aufgestellt waren. Überhaupt wirkte alle s sehr liebevoll angelegt. Flieder blühte in lila, weiß und rosa und sandte seinen betörenden Duft aus. Dazwischen standen üppige Rhododendren in allen denkbaren Farben und in den Beeten blühten Tulpen.
Als wir an einer freien Bank ankamen, nahmen wir Platz. Wir waren nicht sehr weit gegangen, aber die alte Dame neben mir hatte sichtlich eine Pause nötig, also tat ich so, als würde ich unbedingt dort sitzen wollen.
Ich erzählte von dem Haus und wie wohl wir un s dort fühlten, obwohl ich mir nicht sicher war, ob es richtig war, sozusagen noch Salz in ihre Wunde zu streuen. Doch weil Frau Martensen immer wieder eifrig nachfragte, berichtete ich weiter, was schon blühte im Garten und dass wir so gern an dem Eichentisch in der Küche saßen. Die alte Dame schien geradezu begierig darauf zu sein, von ihrem alten Heim zu hören.
Schließlich schwiegen wir. Ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte. Vielleicht war es überhaupt eine dumme Idee gewesen.
« Was war es denn nun, das Sie mich fragen wollten?»
Ich zögerte.
«Heraus damit, ist etwas mit dem Haus nicht in Ordnung?»
« Nein, ganz bestimmt nicht. Es ist wirklich sehr schön und wir fühlen uns in Altenstein sehr wohl. Wir freuen uns jeden Tag daran, und …»
Ich verstummte.
«Das ist schon in Ordnung, meine Liebe. Es ändert ja nichts, ob Sie es nun gekauft haben oder jemand anders. Ich bin allein nicht mehr gut zurechtgekommen. Meine Zeit ist vorüber, das muss man auch akzeptieren. Und wenn ich es schon verkaufen musste, dann ist es mir schon lieber, dass Sie darin wohnen.»
« Danke, das ist nett, dass Sie das sagen!»
« Nun aber heraus damit. Worum geht es?»
« Ich weiß nicht, wie ich das sagen
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