Nora Morgenroth: Der Hüter
höchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen und es waren nur ein paar Monate gewesen, aber anscheinend war doch etwas hängen geblieben. Eine derartig schnelle Reaktion hätte ich selbst mir gar nicht zugetraut.
Als i ch das Stöhnen hörte, wurde mein Blick wieder klar.
« Mein Gott, Oliver!»
Mein Lebensgefährte, Hausmiteigentümer und demnächst Ehemann lehnte an der Wand neben der Tür zur Küche und hielt sich beide Hände vor das Gesicht. Zwischen seinen Fingern tropfte es rot heraus. Diesmal war das Blut echt.
«Nora, verdammte Scheiße …»
Ich sprintete an Oliver vorbei in die Küche und riss zwei Handtücher aus einer Schublade neben der Spüle. Im Nu war ich am Tiefkühlfach und nahm den Eiswürfelbehälter heraus. Mit einem kräftigen Schlag auf die Arbeitsplatte knackten die Würfel heraus. Ich warf sie auf eines der ausgebreiteten Handtücher, rollte den Stoff zusammen und stand Sekunden später mit dem kalten Bündel neben Oliver.
« Hier, drück das gegen die Nase und das andere Handtuch kannst du darunter halten. Komm, setz dich auf die Treppe.»
Oliver ließ sich ächzend auf eine Stufe sinken. Ich setzte mich daneben und legte meinen Arm um ihn.
« Es tut mir so leid! Ehrlich, ich hörte plötzlich ein Geräusch hinter mir, ich wusste nicht, wer das war und dann …»
« Ja, vielen Dank, ich war dabei. Oh Mann! Und du bist nicht auf die Idee gekommen, dass ich mich vielleicht in unserem gemeinsamen Haus aufhalten könnte?»
« Oliver, hör auf mit deinen dummen Witzen. Es tut mir doch so leid! Mein armer Schatz! Meinst du, es wird gehen? Oder soll ich dich ins Krankenhaus fahren?“
E r linste an dem Eiswürfelhandtuch vorbei, das er immer noch an den Nasenrücken gedrückt hielt.
« Und dann sagen wir denen, dass du mich k.o. geschlagen hast, weil ich so spät nach einem Bierchen mit den Kollegen nach Hause gekommen bin? Nee, da musst du mich schon selbst verarzten. Strafe muss sein.»
Oliver wusste, dass ich kein Blut sehen konnte. Davon wurde mir unweigerlich schlecht. Wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, sah ich nicht hin, nicht einmal, wenn mir beim Arzt Blut abgenommen wurde. Doch eben war alles so schnell gegangen, dass ich nicht einmal dazu gekommen war, darüber nachzudenken. Komischerweise machte es mir jetzt immer noch nichts aus, dass Olivers Gesicht blutverschmiert war, ebenso seine Hände und das Hemd. Er sah furchtbar aus. Wie nach einer richtigen Prügelei. Ich hatte nicht gewusst, dass ich so kräftig zuschlagen konnte.
« Wie spät ist es eigentlich?»
« Nun lenk mal nicht ab», sagte Oliver und nahm versuchsweise die Eiswürfel vom Gesicht. «Oder kriege ich noch eine rein, wenn du siehst, wie spät es schon ist?»
« Ach, hör doch auf.»
Mir war überhaupt nicht nach Scherzen zumute, auch wenn ich froh war, dass Oliver mir nicht böse war. Sicher wusste er, dass ich ihn nicht mit Absicht geschlagen hatte. Aber es tat bestimmt weh, also wäre es auch in Ordnung gewesen, wenn er wenigstens ein bisschen sauer war.
« Kannst du mich sonst nächstes Mal erst verhören und dann zusammenschlagen?»
Ich knuffte Oliver in die Seite.
« Aua! Nicht schon wieder! Hab Erbarmen! Ich gehe in ein Männerhaus!»
«Oliver!»
Mir stiegen Tränen in die Augen, weil mir so entsetzlich leid tat, was ich angerichtet hatte. Außerdem war ich so furchtbar müde und der Traum … oh Gott, dieser furchtbare Traum! Ich blickte zu Boden, damit er meine feuchten Augen nicht sah. Glücklicherweise legte sich Olivers Stimme wie eine Schutzschicht zwischen mich und die verstörenden Bilder.
« Ja, ist schon gut. Hör mal, tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Ich war erst kurz vor zwei zuhause. Werner und ich haben auf dem Nachhauseweg im Night & Day noch ein Bier getrunken. Das war ein beschissener Tag heute. Und dann war ich eben in der Küche und habe die restlichen Ravioli aus dem Topf gegessen. Dann hörte ich dich die Treppe hinunter poltern und schon war es passiert.»
«W as ist denn passiert? Bei euch auf dem Revier, meine ich.»
Oliver winkte ab und starrte abwesend vor sich hin. Selbstverständlich erzählte er mir keine Dienstgeheimnisse, aber im Großen und Ganzen wusste ich meistens schon, woran er arbeitete. Wenn sie Überstunden schoben wie in den letzten Tagen, dann musste etwas passiert sein.
« Du, ich kann einfach nicht mehr, lass uns schlafen gehen, okay? Ich erzähle es dir morgen.»
« Nee, ist gut. Ich bin auch todmüde. Gut, dann waschen
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