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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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Auto finden würde? Wie lange konnte das dauern? Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob Oliver mir je erzählt hatte, nach wie viel Stunden die Polizei Suchmeldungen nach erwachsenen Personen herausgab.
    Waren es vierundzwanzig Stunden gewesen oder achtundvierzig? Aber Oliver war selbst bei der Polizei, der hatte ganz andere Möglichkeiten. Der würde den ganzen Apparat in Bewegung setzen. Wenn jemand mich finden konnte, dann Oliver. Wenn. Oh mein Gott.
    Die Gedanken rasten. War an meinem Wagen irgendetwas, das zufällig vorbeikommende Wanderer dazu ermutigen könnte, das Kennzeichen zu melden? Wohl eher nicht. Vor meinem inneren Auge durchsuchte Herr Thönges meine Handtasche, fand den Autoschlüssel und stieg ein. Wohin würde er den Wagen fahren, damit er nicht gut sichtbar an der Einfahrt zu seinem Grundstück stehenblieb? Würde er überhaupt soweit denken? War es nicht vielmehr eine Kurzschlusstat gewesen? Dieser Mann hatte doch im Großen und Ganzen nicht gewalttätig gewirkt. Etwas unbeholfen oder kauzig vielleicht – aber bei etwas musste ich ihn doch ertappt haben.
    Aber was war es? Ich wusste nicht einmal, was es war. Warum hatte er das getan?
    Und warum ähnelte er nicht dem grausamen Man aus meinen Träumen? Konnten die Visionen mich so getäuscht haben? Das ergab doch alles keinen Sinn. Und wenn er es doch war, wo war dann das Kind?
    Nein. Ein entsetzlicher Gedanke durchfuhr mich – er hatte das Kind getötet! Konnte das sein, war es das, was er zu verbergen hatte? Hatte ich etwas gesehen, an das ich mich jetzt nicht mehr erinnerte? Wenn dieser Mann sein eigenes Kind getötet hatte – was würde er dann mit mir tun?
    Nein, nein, nein, sagte ich mir. W enn er das vorgehabt hätte, dann hätte er mich längst beseitigen können. Die Kehle durchschneiden, wie ich es in den Visionen gesehen hatte. Aber natürlich war das etwas anderes gewesen, das waren Tiere. Grausam war es auf jeden Fall gewesen, wenn sich alles so zugetragen hatte. Aber einem Menschen das Gleiche anzutun, bis dahin war es ja noch ein weiter Weg. Oder nicht?
    Ich ließ mich zu Boden gleiten, lehnte meinen Rücken an die Steinwand und z og die Knie an. Mir war kalt. Ich fror, wie man so sagte, bis auf die Knochen. Doch ich zitterte nicht allein vor Kälte. Ja länger ich bei Bewusstsein war, umso näher rückte die Gewissheit, dass ich mich in eine Lage gebracht hatte, die vielleicht meinen Tod bedeuten konnte. Auch wenn Thönges mich nicht gleich getötet hatte, hieß es ja nicht, dass er es nicht noch tun würde. Dass er mich einfach laufen lassen würde, nachdem er mich wie einen Hund in einem finsteren Kellerloch angekettet hatte, das war kaum anzunehmen. Was er ansonsten noch mit mir anstellen mochte, daran wagte ich nicht zu denken. Ich versuchte die Bilder, die angekrochen kamen, wegzuschieben, aber es wollte mir immer schlechter gelingen. Um nicht vor Angst zu schreien, schob ich mir eine Hand in den Mund. Ich biss darauf, nur um etwas anderes zu spüren als die Panik.
    Schreien nützte mir gar nichts. Auch weil ich nicht wusste, wo ich war. Eines war sicher: hier war niemand. Das Einzige, was ich damit möglicherwies erreichen würde, war, dass der Entführer wütend wurde. Bevor ich irgendetwas tat, musste ich versuchen, ihn besser kennenzulernen. Ich musste ihn einschätzen können.
    Was hatte ich bisher über Entführungen gelesen? Das Stockholm-Syndrom fiel mir als Schlagwort ein. Was war das nochmal? Solidarisierte sich der Entführte mit dem Täter oder war es andersherum gewesen? Ich konnte nicht mehr klar denken. Doch was, wenn er mich hier einfach zurückgelassen hatte? Woher wollte ich denn wissen, ob das Loch sich überhaupt auf dem Hofgelände befand?
    Schritte. Genau über mir. Ich hielt den Atem an. Das musste er sein. Ich fürchtete mich, aber noch schlimmer war der Gedanke, dass er mich hier einfach nur abgeladen hätte und niemals zurückkehren würde. Wie in dem Film. Mein persönlicher Alptraum: Lebendig begraben sein. Zurückgelassen. Ein Mann kippte die letzte Schaufel mit Erde auf das Grab, in dem ich um meine letzten Atemzüge kämpfte. Dann  ging er davon.
    Nein, alles nur das nicht.
    Ich wollte leben. Nur das zählte. Ich musste überleben, bis Oliver mich fand. Um jeden Preis.
    Etwas knarrte und knirschte über mir, als würde ein Riegel beiseite geschoben. Es wurde hell in dem Loch. Nicht taghell, aber etwas Licht drang hinein. Ich erkannte, dass die gegenüberliegende Wand etwa zwei bis maximal

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