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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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meine Hand hinein. Während ich das seidige Fell kraulte, fragte ich: «Und Sie leben ganz allein hier, … Herr Thönges?»
    Keine Reaktion. Aber jedenfalls widersprach er mir nicht.
    «Manchmal sterben sie.»
    « Wie bitte?»
    « Du musst jetzt gehen.»
    Ich zog eilig die Hand aus dem Käfig.
    « Ja, natürlich.»
    Der Mann war merkwürdig, Er machte mir eigentlich keine Angst. Die Situation war an sich vielleicht beängstigend, tief im Wald , allein mit einem Fremden.
    Nora, geh niemals mit Fremden mit. Auch nicht, wenn sie dir ein süßes Hündchen versprechen . 
    Doch Thönges wirkte selbst beinahe wie ein Kind, etwas sprunghaft in seinen Äußerungen und schwer einzuschätzen, aber nicht bedrohlich. Nein, das nicht. Trotzdem nahm meine Beklommenheit jetzt zu. In meinem Nacken kribbelte es.
    Ich schob mich rückwärts aus dem schmalen Raum, dabei blieb mein Blick nochmals an der orangefarbenen Jacke hängen, die in der Ecke lag. Thönges gehörte die bestimmt nicht. Gab es also doch noch jemanden auf dem Hof? Und einen Hund gab es wohl auch, ich hatte nur bisher keinen gesehen. Irgendwo gackerten Hühner, das hatte ich vorhin gehört, als wir zu dem Stall gingen. Wahrscheinlich stromerte der Hund frei herum, es gab wohl kaum einen Grund, ein Tier hier anzuleinen.
    Etwas steif folgte ich Thönges, der mit großen Schritten voran ging. Mit einem Mal schien er es eilig zu haben.
    Die bunte Jacke ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hätte gern danach gefragt , doch mein Mund fühlte sich plötzlich ganz trocken an. Die Zunge klebte mir am Gaumen.
    Vor dem Haus blieb Thönges unvermittelt stehen und wandte sich um.
    « Was willst du hier?»
    « Ich … ich habe Ihnen doch schon gesagt, weil der Herr Simoni erzählt hat, dass Sie ihm manchmal Wild verkauften. Aber Sie sagten ja schon, dass Sie im Moment nichts haben. Ist doch nicht schlimm. Dann will ich Sie mal nicht weiter stören.»
    « Was magst du denn?»
    « Wie bitte?»
    « Was magst du denn?»
    « Was … ach so, welches Wild, meinen Sie?» Ich hatte keine Ahnung. Was aß man denn? Rehkeule, hatte Uta Simoni gesagt. In meinem ganzen Leben hatte ich noch keinen Wildbraten selbst zubereitet. Wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, dann aß ich es auch nicht. Bambi essen? Das fehlte gerade noch. Mein Gehirn fühlte sich an wie eingefroren, während ich verzweifelt nach einer Antwort suchte. Ich sollte schleunigst diese schwachsinnige Unterhaltung abbrechen und zusehen, dass ich weg kam. Es war nicht nur unsinnig. Da war noch etwas, doch ich konnte es nicht greifen.
    « Die Kaninchen essen wir nicht.»
    « Die Kaninchen? Nein, natürlich nicht.»
    Da, m it einem Mal, hatte ich es vor Augen. Gleichzeitig begann das Rauschen. Ich erkannte den Stall wieder und Blut, viel Blut. Das Messer in der viel zu kleinen Hand. Blind, mit diesen Bildern von besudeltem Fell vor Augen taumelte ich los. Es war der Stall. Ich war eben in dem Stall gewesen. Ich hatte ihn gesehen. Der Mann war nicht der, den ich gesehen hatte. Aber es war der Ort.
    Ich machte einen Schritt rückwärts, dann drehte ich mich um. Wie im Traum. Spürte meine Füße nicht mehr. Da vorn, da war der Weg. Ich konnte nicht einmal sagen, ob ich schnell lief. Ich versuchte es. Es kam mir beinahe so vor, als liefe ich auf der Stelle. Die Beine trugen mich nicht so rasch, wie ich es wollte. Ich war einfach zu langsam. Schneller, schneller.
    Das Keuchen aus meiner Kehle übertönte das Rauschen. Da war der schmale Weg. Äste peitschten in mein Gesicht, als ich mit einem Fuß leicht umknickte und fast hingefallen wäre. Hinter mir knackte etwas. Oder war es nur das Geräusch meiner eigenen Schritte?
    Ich sah mich nicht um. Niemand war hier. Nur ich und mein Schnaufen. Rechts, links, rechts, links. Schneller, Nora, lauf doch. Lange nicht mehr gejoggt. Keine Kondition. Los, weiter. Ich schaffe das. Ich will nach Hause.
    Noch eine Biegung, da musste die Straße sein. Gleich hatte ich es geschafft. Im Laufen kramte ich mit einer Hand in meiner Umhängetasche. Handy. Schlüssel. Etwas fiel zu Boden. Ich schluchzte verzweifelt auf und bückte mich. Etwas krallte sich in mein Haar. Ich war irgendwo hängengeblieben. Verzweifelt versuchte ich mich zu befreien. Dann wurde es schwarz.

SECHS
     
    Nora.
    Wach auf, liebes Kind.
    … Mama?
    … ich bin es.
    Papa …
    Hab keine Angst … bin immer bei dir.
    Wo bin ich?
    Du bist nicht allein.
    Niemals allein.
    Ich will nach Hause.
    Sch … sch … weine nicht. Bist nicht

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