Nora Morgenroth: Der Hüter
hinhockte, wo ich auch sitzen oder liegen musste? Bisher hatte ich das Bedürfnis unterdrückt, aber lange würde ich es nicht mehr aushalten.
Thönges verschwand, ließ diesmal jedoch die Klappe geöffnet. Irgendwo im Hintergrund hörte ich Wasser rauschen. Es plätscherte mit festem Strahl in ein Gefäß. Ich stand auf und legte den Kopf in den Nacken. Auch wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, hatte ich keine Chance, über den Rand der Grube zu blicken.
Was ich gut erkennen konnte , waren die hölzernen Balken einer Scheune oder eines Stallgebäudes. Direkt über mir. Das Dach erschien mir recht hoch zu sein und ich vermutete, dass es sich um das schon halbwegs verfallene Gebäude handelte, das ich gestern auf dem Hof gesehen hatte.
Gestern? Wieso nahm ich an, da ss es gestern gewesen war?
Wohl, w eil ich geschlafen hatte, auch wenn ich nicht wusste, wie lange. Davor war ich bewusstlos gewesen. Genauso gut konnten zwei Tage vergangen sein.
Nein, korrigierte ich mich in Gedanken, so lange hätte ich Harndrang und Notdurft wohl kaum zurückhalten können. Außerdem wären Hunger und vor allem der Durst noch schlimmer gewesen. Ich verspürte zwar starken Durst, aber es fühlte sich nicht an, als wäre ich kurz vor dem Austrocknen.
Alles nur Vermutungen, dachte ich. Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen. Ob es die Angst war oder nur die Verdauung, konnte ich nicht sagen. Merkwürdigerweise war ich froh, als ich Thönges am Rand der Grube auftauchen sah. Er beugte sich etwas vornüber und ließ einen Eimer an einem Seil hinunter. Einen hellgrünen Plastikeimer. Ich nahm an, als Toilette. Einerseits gut, besser als auf den Boden zu machen – andererseits aber auch wieder nicht, denn das deutete schon beinahe darauf hin, als müsste ich mich auf einen längeren Verbleib in dem kahlen und nasskalten Loch einrichten.
Ich muss hier raus, schoss es mir in den Sinn, unbedingt, wenigstens einen ersten Schritt.
Das hier würde nicht mein Grab werden. Nein. Ich wollte leben. Ich wollte zu Oliver zurück, ich wollte nicht, dass sie alle um mich weinen mussten, Hedda und Oliver und Bille und sogar Mutter. Die kleine Viola wollte ich aufwachsen sehen. Oliver und ich hatten doch gerade erst beschlossen, dass wir ein Kind wollten
Nein, das darf alles nicht wahr sein , dachte ich, ich will leben, ich will noch so vieles, Mutter werden und Oliver weiter lieben.
Ich streckte die Arme aus und nahm den Eimer entgegen. Er war schwerer als erwartet. Als ich ihn absetzte, erkannte ich, dass Wasser darin war. Also war das nicht meine Toilette. Ich sollte daraus trinken. Aus diesem nicht schmutzigen, alten Plastikeimer sollte ich trinken.
Im nächsten Moment erkannte ich, dass all das jetzt keine Rolle mehr spielen durfte. Wenn ich das hier überleben wollte, dann konnte ich mir nicht leisten, pingelig zu sein. Dann musste ich eben auf den Boden machen und aus einem schmuddeligen Eimer trinken. Mein Ziel stand fest: Ich würde überleben. Um jeden Preis. Dafür musste ich stark bleiben. Essen und trinken.
Also hob ich den Eimer erneut an, schloss die Au gen und trank. Das war gar nicht so einfach. Das kostbare Wasser floss aus den Mundwinkeln und lief mir den Hals hinab. Wer wusste, wann er mir wieder etwas bringen würde?
Während ich gierig schluckte , versuchte ich, nicht an das zu denken, was ich zuvor im Eimer hatte schwimmen sehen. Sand. Fusseln. Gras? Menschen auf der ganzen Welt hatten keinen Zugang zu sauberem Wasser, es war höchste Zeit, dass ich aufhörte, mich um solche Nebensächlichkeiten zu sorgen. Stell dich nicht so an, Nora.
I ch setzte das Gefäß vorsichtig ab und hob den Kopf. Thönges stand am Rand der Grube und starrte mich an. Sah er mich überhaupt? Die unbewegte Miene drückte nichts aus, weder Hass noch Wut noch Begierde. Das war das nächste, worüber ich mir vermutlich Gedanken machen musste. Aber ich sah nichts in seinem Blick, das darauf hindeutete, dass er gleich über mich herfallen würde. Andererseits – sah man das vorher?
Ich musste irgendetwas sagen, ehe er die Luke wieder zuklappte, wollte ihn zurückhalten. Wenn mir auch tausend Dinge gleichzeitig durch den Kopf schossen, mir fiel nicht das Geringste ein, was ich zu diesem Mann sagen konnte.
« Herr Thönges?»
Es war absurd. Ich stand in der Grube und war angeleint. Was sollten da noch die Konventionen? Aber wie sollte ich ihn sonst nennen?
« Ich bin Nora.»
Er glotzte nur weiter. Ja, das war es, er starrte nicht einmal.
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