Nora Morgenroth: Der Hüter
zweieinhalb Meter von mir entfernt war. Der Raum war also etwas länger als breit. Alle Wände und der Boden waren aus dem gleichen, unregelmäßigen Stein gemauert.
Es gab nichts darin, keine Treppe, kein Stuhl oder Regal. Nur ich und der Haken in der Wand. Das alles erfasste ich in nerhalb von wenigen Sekunden, dann hob ich den Kopf. Die Silhouette eines Mannes hob sich gegen ein graues Halblicht ab. Über ihm waren keine Bäume und kein Himmel zu erkennen, also befand mein Loch sich im Inneren irgendeines Gebäudes. Das bedeutete wohl, dass ich immer noch auf dem Hofgelände war. Im Vergleich zu der Möglichkeit, mitten im Wald in einem Erdloch zurückgelassen zu werden, war das eine vergleichsweise gute Nachricht.
« Wer nicht hören will, kommt ins Loch.»
Ich starrte zu der Silhouette hinauf.
«Hast mich gehört? Wer nicht hören will, kommt ins Loch.»
« Ja», sagte ich und erkannte meine Stimme kaum wieder. «Das verstehe ich.»
Nun war oben Schweigen.
«Darf ich jetzt bitte herauskommen?»
Nichts.
«Ich muss mal auf die Toilette. Bitte.»
Meine Stimme klang ganz klein und fremd. Wann hatte ich zuletzt so demütig um etwas gebeten?
Anstatt einer Antwort bewegte sich die Gestalt über meinem Kopf hin und her. Er brummte etwas Unverständliches. Dann wurde ein kleines Bündel herabgeworfen, das mich nur knapp verfehlte. Dann noch etwas. Ehe ich noch erkennen konnte, was es war, schlug die Klappe zu. Dunkelheit umfing mich. Schwärzer als schwarz.
« Herr Thönges! Bitte, Herr Thönges, kommen Sie doch zurück!»
Ich rief noch eine Weile. Dann sank ich zu Boden und taste nach den beiden Bündeln. Es war schwierig zu erraten, was es sein könnte , ohne etwas zu sehen. Beides war in knisterndes Papier eingewickelt, Zeitungspapier vielleicht. Ich schnupperte an dem einen Päckchen und roch Brot, etwas muffig. Das wickelte ich aus und hielt es mir dicht unter die Nase. Dann leckte ich vorsichtig mit der Zungenspitze daran. Es schmeckte leicht säuerlich, vermutlich selbst gebacken. Nicht sehr lecker. Zwei Scheiben waren es, aufeinander geklebt, dazwischen ein Fett, das ranzig roch. Ohne es zu sehen, war es mir fast unmöglich, eine sichere Aussage zu treffen. Ich dachte an Großmutter und was sie mir über die Sinne in Bezug auf Nahrung erzählt hatte. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage. Ich sah die Dose Ravioli vor mir und meine Küche und wollte schreien. Nicht daran denken, ermahnte ich mich. Denk daran, du willst das hier überleben. Du musst essen. Was er dir gibt, wirst du essen. Vertrau deinem Geruchssinn. Wenn es nicht essbar ist, dann wirst du das wissen. Ja, Omi. Rieche daran und koste es, dann weißt du selbst Bescheid .
Ich wusste leider gar nichts. Richtig schlecht roch es nicht. Vielleicht war es Margarine, die ich so gut wie niemals aß, oder Schmalz?
Nun, vergiften würde der Mann mich vermutlich nicht, denn wenn er mich töten wollte, konnte er das einfacher haben.
Wie lange mochte ich bewusstlos gewesen sein?
Ich verspürte ein leichtes Hungergefühl. Wenn ich unterzuckerte, bekam ich bald rasende Kopfschmerzen und Kreislaufprobleme. Ich musste essen. Also überwand ich den Widerwillen und biss in das Brot. Schließlich wickelte ich das, was ich in etwa für die Hälfte meiner Ration hielt, zurück in das Papier. Dann wickelte ich das andere, wesentlich leichtere Päckchen aus und erkannt zu meiner Enttäuschung, dass es sich um Toilettenpapier handelte. Keine Rolle, nur abgerissene Stückchen. Und nichts zu trinken!
Ich lehnte den Rücken wieder an die Steinwand und begann mich zu fragen, wie lange ein Mensch in so einem Erdloch wohl ausharren konnte. Es war kühl und feucht – wie lange mochte es dauern, bis ich eine Lungenentzündung bekam? Aber vielleicht war mein Körper doch widerstandsfähiger, als ich dachte. Mir war nur kalt, mehr nicht. Und ich war müde. Müde und erschöpft. Die Angst laugte mich mehr aus, als wenn ich den ganzen Tag arbeitete.
Was, um Himmels willen, wollte dieser Mann von mir?
Die Zeit schlich dahin. Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn ich schrak hoch, als die Luke erneut geöffnet wurde. Der Raum über mir war heller als zuvor, ich erkannte nun ganz deutlich das Gesicht des Mannes, der mich überwältigt hatte.
Wie begrüßte man seinen Entführer, wenn der das Verlies öffnete?
«Ich habe Durst.»
Ganz nebenbei fühlte es sich an, als würde meine Blase gleich platzen. Erwartete dieser Scheißkerl im Ernst, dass ich mich da
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