Nora Morgenroth: Der Hüter
Der Blick dieses Mannes war ein leeres, neutrales Glotzen.
Ich versuchte es erneut. War es nicht so, dass man zu seinem Entführer eine Beziehung herstellen musste, damit es ihm schwerer fiel, einen zu töten? Aber woher sollte ich wissen, was diesem Mann gefiel, der mir zunehmend vorkam, als hätte er nicht alle Sinne beisammen, und was ihn wütend machte?
« Ich bin Nora Morgenroth. Wissen Sie noch? Ich habe es Ihnen schon gesagt. Nora.»
Wenn ich nicht mehr irgendwer für ihn war, vielleicht würde er mich dann am Leben lassen.
«Morgenroth ist morgen tot.»
Oh Gott.
«Ich bin Nora.»
« Nora?»
« Ja, genau, Nora.»
« Nora, die Kuh.»
Wie schmeichelhaft.
«Du bist aber eine dünne Nora. Das hat mir keiner gesagt. Kuh ist immer dick. Dick ist lustig und fein.»
« Wenn Sie … vielleicht geben Sie mir mehr zu essen? Dann bin ich nicht mehr so dünn.»
« Ich weiß nicht. Da ist doch schon so eine. Oh je, oh je, oh je.»
Was, so eine? Eine Kuh?
Er trat einen Schritt zurück. Dann winkte er mir zu, als stünde er auf einem Bahnsteig und ich säße in dem Zug, der gleich abfahren würde. Ich hob die rechte Hand und winkte zurück. Dann fiel die Luke zu.
« Herr Thönges, warten Sie doch, bitte warten Sie!»
Ich war allein in der Dunkelheit . Lauschte. Eine Tür knarrte. Dann war es still und ich kauerte mich auf den Boden. Mein Magen tat weh, die Blase drückte inzwischen schmerzhaft und ich fing leise an zu weinen.
Dann richtete ich mich wieder auf und zog die Hose herunter. Ich entfernte mich, so weit ich konnte, von meinem Stammplatz unter dem Wandhaken und hockte mich hin. Erleichterte mich endlich. Etwas Urin lief mir warm den Knöchel hinunter und augenblicklich erfüllte der beißende Geruch mein kleines Verlies. Ich konnte nur hoffen, dass der Boden zu meinem Sitzplatz hin nicht abschüssig war. Dann krabbelte ich zurück und ließ mich an der Wand nieder. Den Trinkeimer zog ich neben mich, dann tastete ich nach dem Päckchen mit dem Rest Brot und legte es mir auf den Schoß. Sicher war sicher. Ich weinte immer noch.
Thönges war ganz offensichtlich irre. Warum hatte ich das gestern, oder wann es gewesen war, nicht bemerkt? Wie hatte ich so dumm sein können, allein hierher zu fahren? Wenn ich mir die Kaninchen nicht noch angesehen hätte, dann wäre ich vermutlich davongekommen.
Aber warum? Warum tat er das?
Ich hatte doch nichts gesagt oder getan – was hatte er zu verbergen? Er war doch gar nicht der böse Vater aus meinen Visionen. Oder doch?
Aber warum hatte er mich nicht einfach gehen lassen? Hatte die Entführung vielleicht gar nichts mit meinen Träumen zu tun? Wer war der Mann?
Das Weinen hatte mich erschöpft, so dass mir schließlich die Augen zufielen. Mir war es recht. Jeder wache Moment war eine Qual. Es tat weh, mir auszumalen, welche Sorgen Oliver inzwischen durchleben musste oder Hedda. Mutter. Ob sie schon etwas unternommen hatten? Was konnten sie überhaupt tun, da ich so ohne jeden Hinweis verschwunden war? Ich konnte nur hoffen, dass sie mein Auto bald fanden. Oder mein Handy orteten. Ja, das ging, das wusste ich. Aber musste es dafür nicht angeschaltet sein? Ich wusste nicht einmal mehr genau, wann ich es zuletzt benutzt hatte. Vor allem wusste ich nicht, was Thönges mit meiner Tasche gemacht hatte. In den Filmen warfen die Verbrecher ein verräterisches Handy gern auf einen fahrenden Zug, um die Polizei in die Irre zu schicken. Ich traute Thönges zwar keine besonders ausgefeilte Verschleierungstaktik zu, aber vielleicht täuschte ich mich auch. Der Mann konnte viel gerissener sein, als es den Anschein hatte.
Ich kauerte mich zusammen und legte den Kopf auf die Knie. Da flatterte das Rauschen heran. Ja, nimm mich mit, dachte ich, und hörte eine klagende Frauenstimme.
Omi, was soll ich tun …
Mama!
Nein, bitte nicht! Bitte …
Oh Gott, wer bist du …
… hilf mir …
Papa! Omi!
Töte es!
Es tut so weh!
Helft mir!
Hol den Stock!
Wer bist du …
Nora-Kind, ich liebe dich so sehr …
Papa, ich habe Angst!
Hilfe … nein … nicht … oh bitte …
Wer ist das, ich will das nicht …
… nein, Papa, bitte nicht … aua …
… ich bin immer bei dir …
Hab keine Angst.
Nein … bitte nicht …
… Papa … ich tue es ja … nicht das Loch.
Die Stimmen trugen mich davon.
Ich stehe in einem unbekannten Raum. Vor mir kniet ein kleiner Junge. Ich halte etwas in der Hand, einen Stock vielleicht. Es ist hart und schwer. Ich will ihn
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