Nora Morgenroth: Der Hüter
sprudelte. Als ich die Augen öffnete, fand ich mich in einem fremden Raum wieder. Ich lag auf dem Boden. Neben mir stand ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit, daneben lag ein Apfel, dessen Schale reichlich verschrumpelt aussah. Vorsichtig setzte ich mich auf. Es klirrte. Ich musste feststellen, dass ich immer noch angebunden war.
Die Leine war verschwunden, stattdessen war eine Metallkette an meinem Halsband befestigt, die mit einem Schloss am Heizköper unterhalb des Fensters angebracht war.
Ich blicke mich um. Der Raum maß vielleicht zweieinhalb mal drei Meter und enthielt nichts außer mir und dem Heizkörper. Ich langte nach dem Apfel und biss hinein. Das Fruchtfleisch war mehlig. Ich aß auch das Kerngehäuse mit, nur den kleinen hölzernen Stiel ließ ich übrig. Dann stand ich mühsam auf und trat an das Fenster. Ich schob die gelblichen Vorhänge beiseite. Was ich auf dem Hof entdeckte, ließ mich zurückschnellen. Ich stützte mich an der Wand ab und versuchte, meinen Herzschlag mit regelmäßigen Atemzügen unter Kontrolle zu bringen.
Vorsichtig schob ich mich erneut an das Fenster heran und linste durch einen schmalen Spalt im Vorhang. Ich wollte vermeiden, dass Thönges durch die Bewegung des Stoffes auf mich aufmerksam würde.
Von dem Fenster aus sah ich direkt auf den Brunnen, vielleicht fünf Meter von mir entfernt, dahinter erkannte och die Scheune.
Auf einer kurzen Bank, die aus einem halben Baumstamm gefertigt war, der von zwei Holzklötzen gehalten wurde, saß Thönges. Vor ihm kniete eine Frau. Wie ich trug sie ein Halsband, daran befestigt war eine Leine wie jene, mit der er mich herumgeführt hatte. Vielleicht war es sogar dieselbe.
Die Frau hatte ihren Kopf auf seinen Schoß gelegt. Zuerst vermutete ich eine sexuelle Handlung, aber dann erkannte ich, dass er nur ihr Haar bürstete. Mit etwas, das ich aus meiner Kindheit kannte, als ich mit Hedda zusammen einige Zeit Reitunterricht genommen hatte. Allerdings war ich insgesamt immer zu ängstlich gewesen, die großen Tiere, so schön ich sie auch fand, hatten mich eingeschüchtert und der Reitlehrer erst recht. Also hatte ich bald wieder aufgehört.
Striegel nannte man das, absurderweise fiel der Begriff mir jetzt wieder ein, als ich atemlos aus dem Fenster starrte und zu begreifen versuchte.
Ich war nicht allein.
Es gab noch eine andere Frau.
Da ist ja schon eins .
Sie war es gewesen, die geschrien hatte. Keine Frau Thönges. Kein Kind. Eine weitere Gefangene.
ACHT
Als es dämmerte, hatte ich das, was von meinen Fingernägeln noch übrig war, am Verschluss des Halsbandes abgebrochen. Ich konnte ja nichts sehen, denn das, was ich als Schließmechanismus ertastete, saß unter meinem Kinn.
Egal , wie sehr ich mich auch verrenkte oder versuchte, an meinem Gesicht vorbei zu schielen, ich konnte nichts erkennen. Es war unmöglich. Das Band saß zu dicht an der Haut. Jedenfalls war es mit keiner gewöhnlichen Schnalle verschlossen worden, die hätte ich wohl längst irgendwie geöffnet. Vielmehr schien es, als wären die Enden des Bandes fest miteinander verbunden, ich vermutete, dass es Nieten waren. Was es auch war, ich brachte es nicht auf.
Lange hatte ich am Fenster ausgeharrt und dem sonderbaren Paar im Hof zugesehen. Die Frau hatte ein sackartiges braunes Gewand getragen und sie war barfuß gewesen. Ihr Gesicht hatte ich kaum erkennen können, da sie den Kopf die meiste Zeit in Thönges Schoß gesenkt hielt. Ihr braunes Haar war schulterlang und leicht gewellt. Es mochte sein, dass wir uns vom Typ her sogar ähnelten. War das der Grund, weshalb Thönges mich festhielt? Verfolgte er gar ein bestimmtes Jagdschema? Wenn man überhaupt annehmen wollte, dass eine Absicht hinter all dem gesteckt hatte. Nein, eigentlich war das unwahrscheinlich. Schließlich hatte er mich nicht erwartet, also konnte er es nicht geplant haben. Möglicherweise war die andere Frau ihm auf ähnlich zufällige Weise zugefallen. Oder er hatte sie gekannt und dann gefangengenommen. Wie lange mochte sie schon in seiner Gewalt sein? Wer war sie und vor allem: Was wollte der Mann von uns?
Es war gleichgültig, wie lange ich grübelte und welche Szenarien ich mir ausmalte, ich konnte es nicht ergründen. Thönges war sonderbar, aber er war zumindest bisher nicht gewalttätig gewesen. Wenn man einmal davon absah, dass allein die Tatsache, dass er mich gefangen hielt, ein Akt der Gewalt war. Aber er hatte mich weder geschlagen noch Anstalten gemacht, mich
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