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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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Nur einen Schritt noch und das Halsband schnürte sich in meine Haut. Da hatte er den Raum schon verlassen.
    Ich nahm den Eimer auf und kehrte zu dem Platz an der Heizung zurück. Ich setzte mich unter das Fenster und lehnte meinen Rücken an die Wand. Nun drang gar kein Licht mehr von außen in den Raum. Entweder war es eine bewölkte Nacht oder es lag an den hohen Bäumen, dass weniger Licht einzudringen schien als bei uns zuhause. Zuhause. Oliver. Mein Magen zog sich vor Kummer und Sehnsucht und Hunger zusammen. Ob sie mich wohl für tot hielten? Ob sie mich suchten? Aber wo sollten sie schon suchen – ich konnte ja überall und nirgends sein. Ich war so dumm gewesen, nicht einmal eine Nachricht zu hinterlassen, ehe ich zu meinen idiotischen Nachforschungen aufgebrochen war.
    Alles, was ich jetzt noch tun konnte , war zu überleben, bis sie mich fanden. Wenn sie mich jemals fanden.
    Was war mit der and eren Frau, wie lange konnte sie schon in Thönges Gewalt sein? Monate, Jahre vielleicht?
    Ich ließ den Tränen freien Lauf. Irgendwann war ich so erschöpft, dass ich nicht einmal mehr in den säuerlich riechenden Kanten Brot beißen mochte. Ich hob den Arm und legte das Brot hinter den Vorhang auf die Fensterbank. Dann schnupperte ich an der Bierflasche. Nur ein schwacher Geruch erinnerte an den ursprünglichen Inhalt. Ich sah mich um, konnte das Glas, das hier vorher gestanden hatte, nicht mehr entdecken. Also setzte ich die Flasche an die Lippen und trank. Es war nur Wasser. Dann ließ ich mich zu Boden gleiten und rollte mich auf der Seite zusammen. Wenigstens war es hier nicht so kalt und feucht wie in dem Loch, aber dennoch fror ich.
    Ich starrte in die Dunkelheit. Meine Augen brannten von den vielen Tränen. Als das Rauschen sich näherte, hieß ich es willkommen. Ja, nimm mich mit, dachte ich, egal wohin. Papas Stimme und die meiner Großmutter streichelten und trösteten mich. Dann wurden sie immer leiser und andere, fremde Stimmen wurden lauter. Sie heulten und brüllten. Alles ging durcheinander. Mann. Kind. Kind. Frau. Kind.
     
    Der Junge läuft über den Hof. Da ist der Brunnen. Der Mann. Er hat den Stock erhoben. Das Kind fällt hin. Der Stock saust nieder. Im Stall. Aus dem Loch dringt das Weinen eines Kindes. Magere Ärmchen umarmen sich. Zwei Herzen schlagen wie eines. Bumm. Bumm. Das Kind läuft fort. Es singt. Im Arm trägt es etwas Blutiges. Eine Frau fällt zu Boden. Sie krallt sich an etwas fest, das aus dem Boden ragt. Sie ist sehr schmutzig. Ihre Füße ragen in die Luft, als sie zappelt und sich wehrt. Gegen die kräftigen Männerhände hat sie keine Chance. Dann sind die Hände sehr behutsam. Sie halten einen Schwamm. Eine tiefe Stimme summt dazu eine Melodie, die nur aus wenigen Tönen besteht. Die Frau weint. Er wäscht sie sehr behutsam. Der Mann bindet das Kind an. Es kriecht in die Hütte. Wau, wau, macht es und lacht. Dann hat es wieder blutige Hände. Die großen Hände bürsten. Ein alter Mann liegt tot im Gras. Sein Gesicht und die Arme sind voller Schnitte. Das Blut ist dunkelrot und alles ist schwarz von Fliegen. Sie summen unaufhörlich, es hört sich an, als finde das Summen in meinem eigenen Kopf statt. Ich will es nicht mehr hören. Aufhören, aufhören. Ich will mir die Hände über die Ohren halten, aber das Summen hört nicht auf.
     
    Noch ehe ich die Augen öffnete, fühlte ich es. Ich blinzelte und erkannte Thönges, der im Schneidersitz vor mir auf dem Boden saß. Er summt die Melodie, die ich aus den Träumen kannte. Also doch.
    Vielleicht hatte er auch die ganze Zeit gesummt und ich hatte nur gemeint, es zu träumen. Je länger ich mich in Thönges Gewalt befand, umso schwerer fiel es mir, zwischen der Wirklichkeit und den Visionen zu unterscheiden.
    Ich versuchte, leicht und gleichmäßig zu atmen, damit er nicht bemerkte, dass ich wach war. Zuerst musste ich mir darüber klar werden, wie ich reagieren sollte.
    Die Bürste fuhr über mein Haar. Es war mittellang und dunkelbraun, seit ich es nicht mehr blond färbte, was ich über viele Jahre getan hatte, um Mutter äußerlich nicht zu ähnlich zu sehen. Wie dumm war ich eigentlich gewesen? War es das wert gewesen, der jahrelang gehegte Groll gegen Mutter, nur weil sie in meiner Kindheit nicht so treusorgend und liebevoll gewesen war, wie ich es mir gewünscht hatte? In diesem Moment nahm ich mir vor: Wenn ich jemals hier herauskäme, dann würde ich meine Mutter in den Arm nehmen. Ich würde sie drücken und ihr

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