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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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Aua. Aua.»
    « Nein, bitte nicht, es tut mir leid …»
    « Lügen ist verboten, sagt Papafritz. Ab ins Loch.»
    « Das verstehe ich«, stammelte ich. «Ja, das verstehe ich, es war falsch von mir. Bitte entschuldigen Sie. Ich tue das nie wieder. Ich verspreche es.»
    « Dummdummdumm.»
    « Ich … ich tue alles, was Sie mir sagen.»
    « Wer nicht hört, kommt ins Loch.»
    « Ja doch, das habe ich verstanden.»
    « Ohohoh. Da is wohl schon eins. Lustig. Haha.»
    Das tonlose, irre Lachen.
    Die Situation war grotesk. Ich stand mit einem Lederband um den Hals einem fremden Mann gegenüber, der mich an der Leine festhielt. Der mich anscheinend für irgendeine Art Tier hielt. War das ein verrücktes Spiel oder dachte er das wirklich?
    Hatte ich irgendeine Chance, mich loszureißen? Was würde er mit mir anstellen, wenn der Versuch misslang?
    Fürs Erste schien es mir am besten zu sein, wenn ich den Anweisungen folgte und mich gehorsam zeigte. Noch immer war mir nicht klar, was dieser merkwürdige Mann von mir wollte und warum er mich festgehalten hatte. Meine Beine zitterten, doch ich versuchte, mir die Schwäche nicht anmerken zu lassen. Lange würde ich mich nicht mehr aufrecht halten können. Ich musste bald etwas essen und trinken.
    Thönges sah aus, als würde er angestrengt nachdenken.
    « Brav sein.»
    Das war alles, was er heraus brachte. Um Thönges‘ Mund hatten sich kleine Schaumbläschen gebildet.
    « Ja, ich bin ganz bestimmt brav», flüsterte ich und senkte den Kopf in der Hoffnung, dass diese demütige Geste ihn besänftigte.
    Thönges war scheinbar zufriedengestellt. Ich ließ mich widerstandslos zur Eingangstür führen. Die Sonne war weiter gewandert und hinter den Baumwipfeln versunken. Es wurde kühl. Ehe Thönges die Haustür aufsperrte und mich hinein führte, wandte ich noch einmal den Kopf und ließ meinen Blick über den verwahrlosten Hof schweifen. Was mochte mich in diesem Haus erwarten? Egal, alles war besser als das Loch.
    Die Eingangsdiele war geräumig und lag im Halbdunkel, da die Vorhänge an den beiden Fenstern seitlich der Haustür zugezogen waren. Es roch muffig, wie wenn man sehr lange nicht gelüftet hatte. Modrig. Von irgendwoher kannte ich den Geruch. Aber vielleicht roch es in allen alten Häusern gleich. Feuchtigkeit, Dreck und zu wenig Frischluft.
    Geradeaus erkannte ich die Küche. Der Türrahmen war leer. Zur Linken führte eine Treppe mit einem dunkelbraunen, geschnitzten Geländer ins Obergeschoss. Von der rechten Seite der Diele gingen drei Türen ab. Der Boden war in einem aufwändigen Muster schwarz und weiß gefliest oder zumindest mochten die helleren Kacheln einmal weiß gewesen sein, aber das war lange her. Alles starrte vor Schmutz und wohin ich auch sah, stapelten sich Unrat und alte Gebrauchsgegenstände. Alles war einfach an den Wänden entlang aufgestapelt.
    Man hätte meinen kön nen, dass jemand gerade dabei gewesen war, das Haus zu entrümpeln und hatte die Arbeit dann mittendrin unterbrochen. Doch die dicken Staubschichten, die über all dem lagen, sprachen dagegen. Zerbrochene Möbelstücke, ein Stuhl, der nur noch auf drei Beinen stand, ein uraltes Radio und Stapel von vergilbten Zeitungen, die die Farbe von einem guten Ceylontee angenommen hatten.
    Ich wurde mir der Gegenwart dieses Mannes, der mich in seiner Gewalt hatte, so bewusst, dass ich nach Luft schnappte. Wenn er wollte, dann konnte er mich hier jahrelang gefangen halten. Thönges konnte mich jeden Tag vergewaltigen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Auch wenn der Entführer bisher keine Anstalten in dieser Richtung gemacht hatte. War es nicht das, worauf es letzten Endes immer hinauslief? Warum sonst tat er das?
    Das Rauschen kam ohne Ankündigung. Es war plötzlich da . Ich fiel ins Bodenlose. Eine fremde Frauenstimme. Sie weinte kläglich. Dann wurde alles schwarz, nur das Rauschen blieb und die Stimmen. Ich wurde angehoben und flog.
     
    Ich muss das tun.
    Tun Sie es nicht, bitte, tun Sie es nicht!
    Papa hat es gesagt.
    Nein!
    Papa hat gesagt, ich darf dich nicht mehr liebhaben.
    Doch, das dürfen Sie … bitte nicht!
    Wer nicht hört, muss ins Loch.
    Ich bin auch immer brav.
    Du bist brav, ich bin es nicht gewesen. Wenn ich nicht brav bin, muss ich es töten.
    Nein, das müssen Sie nicht … oh nein … nein … nein .
     
    Ich konnte mich nicht bewegen, aber ich schrie und schrie. Ich hatte gesehen, wie die Klinge, die so poliert und glatt war, blitzte und wie das Blut aus der Kehle

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