Nora Morgenroth: Der Hüter
zu vergewaltigen.
Ich hatte erneut festgestellt, dass Thönges als Person mir an sich keine Angst machte. Es war merkwürdig. Die Situation, in der ich mich befand, ängstigte mich zu Tode. Der Mann, der mich hier festhielt, sonderbarerweise nicht. Oder konnte ich nicht mehr klar denken?
Was ich im Hof beobachtet hatte, war bizarr gewesen . Die Frau war angeleint und wurde von einem erwachsenen Mann gestriegelt wie ein Haustier. Doch davon abgesehen hatte er sie nicht schlecht behandelt, er hatte sie nicht getreten oder geschlagen, nach allem, was ich mitbekommen hatte.
Im Gegenteil , er schien ihr beinahe zärtlich zugetan zu sein. Thönges hatte die Frau nicht behandelt, wie man erwarten würde, dass ein Entführer die Frau in seiner Gewalt behandelte, vielleicht mit Missachtung oder sexuellen Übergriffen. Nein, stattdessen hatte er hingebungsvoll ihr Haar gebürstet, als wäre sie sein Lieblingspferd.
Nora, die Kuh.
Irgendwann, als die Sonne tiefer sank, führte Thönges die Frau ins Haus. Sie folgte ihm wie ein gut dressiertes Pferd. Da ich an der Heizung angekettet war, konnte ich die gegenüberliegende Tür nicht erreichen. Sonst hätte ich mein Ohr an das Holz legen und lauschen können. Vielleicht konnte ich dennoch verfolgen, wo er die andere Gefangene hinbrachte.
Ich überlegte, wie ich ihr zu verstehen geben konnte, dass sie nicht mehr allein war. Zu rufen wagte ich nicht.
Oder wusste sie es bereits? Hatte sie mich vielleicht auch schon durch ein Fenster erspäht?
Als ich Schritte vor meiner Tür hörte, hustete ich, aber ich wusste nicht, ob das Geräusch laut genug gewesen war.
Bald darauf wurde es dunkel und ich kam nicht an den Lichtschalter heran. Der Schalter befand sich neben der Tür. An der Decke baumelte nutzlos eine nackte Glühbirne.
Dann und wann stand ich auf, um meine Glieder zu strecken. Das Kreuz tat mir weh vom Sitzen auf dem harten Boden. Inzwischen hatte ich auch das Fenster untersucht, ob ich vielleicht im Rahmen einen Schlitz entdecken konnte. Doch da war nichts, nicht der kleinste Zwischenraum. Es war nicht zu öffnen. Vielleicht hatte er es von außen zugenagelt oder das Holz mochte durch die Feuchtigkeit verzogen sein.
Was hätte es mir auch genützt, wenn ich es hätte öffnen können? Um Hilfe zu rufen , hatte im Wald wenig Zweck. Und wenn ich hindurch kletterte, käme ich dank der Kette nicht weiter als einen Meter.
Das Geräusch des Schlüssels, der sich im Schloss drehte, ließ mich aufschrecken. Ich zog die Vorhänge wieder zurecht und drehte mich um.
Thönges kam herein, eine dunkle Silhouette vor hellem Hintergrund. In der Diele brannte Licht. Zwischen seinen Beinen erkannte ich das schwarzweiße Fliesenmuster, darüber das Dunkelbraun des Treppenaufgangs. Also befand ich mich in einem der rechts liegenden Räume, deren Türen ich vorher von der Diele aus gesehen hatte. Ich schätzte, dass es der mittlere war.
Thönges trug einen Eimer herein. In der anderen Hand hielt er eine geöffnete Bierflasche und ein Stück Brot. Demütig trat ich einen Schritt vor, aber nur einen, um das Gebrachte entgegenzunehmen.
« Danke, Herr Thönges.»
Ich konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen. Das hereinfallende Licht blendete. Er war jetzt noch einen Schritt von mir entfernt. Ich sog einen fremden Geruch ein. Konnte es das Parfum einer Frau sein? Sie hatte nicht so ausgesehen, als ließe man sie regelmäßig baden. Ihre bloßen Füße waren fast schwarz gewesen, nur das Haar hatte geglänzt wie frisch gewaschen, wenn man das aus der Entfernung überhaupt beurteilen konnte. Doch, es war eindeutig der frische Duft von Shampoo.
Ich schauderte bei dem Gedanken, dass er mich ebenfalls berühren würde. Bürsten, striegeln.
Selbst wenn es nur das wäre, wa s sollte ich dann tun? Das fragte ich mich und gab mir zugleich selbst die Antwort: Gar nichts würde ich tun, außer es geschehen zu lassen. Mein Ziel war das Überleben. Ich durfte ihn nicht verärgern. Etwas wollte ich dennoch wagen.
« Ich habe aus dem Fenster gesehen. Ich darf doch aus dem Fenster sehen, nicht wahr?»
Die Silhouette blieb unbeweglich.
«Sie ist sehr schön!»
Stille.
«Vielleicht darf ich sie einmal kennenlernen?“
Schweigen.
«Sie haben ihr Haar gekämmt.»
« Nein.»
„ Doch, ich meine, ich habe sie gesehen. Die … Frau. Ich wollte doch nur … bitte bleiben Sie noch!“
Thönges wich zurück.
« Halt’s Maul.»
«Bitte …»
Die Kette klirrte, als ich versuchte, ihm zu folgen.
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