Nora Morgenroth: Der Hüter
ja ebenso gehen. Ich hatte keine Vorstellung davon, in welche Himmelsrichtung ich rennen müsste, um auf dem schnellsten Weg in die Nähe von Häusern zu gelangen. Nun ja, auf der anderen Seite des Hauses lag der Weg zur Straße – aber auch wenn ich dort schneller laufen könnte, bot sich keine Möglichkeit zum Versteck. Dass Thönges mich leicht einholen konnte, hatte sich bereits gezeigt.
A ll diese Überlegungen brachten mir wenig, so lange dieses verdammte Hundehalsband mir bei jeder falschen Bewegung die Luft abschnürte. Plötzlich traf mich ein harter Strahl mitten auf den Rücken. Ich taumelte einen Schritt vorwärts und versuchte auszuweichen, aber die Leine hielt mich zurück.
« Verdammte Scheiße!», brüllte ich und versuchte vergeblich, der Nässe zu entkommen.
« Wer nicht hören will, kommt ins Loch», sang Thönges mit seiner leiernden, tonlosen Stimme und fuhr fort, mich mit dem Schlauch abzuspritzen. Ich schlug die Hände vor das Gesicht und brach in Tränen aus. Es war so entsetzlich demütigend und mir war kalt. So kalt.
Ich weinte immer noch, als er endlich das Wasser abstellte.
« So ist es brav», rief Thönges und zog sanft an der Leine. Ich folgte ihm. Was hätte ich auch anderes tun sollen?
Kreuz und quer über den Hof ging es, einmal um das Haus herum, schließlich führte er mich zu einem Pfahl, der auf einer kleinen Wiese vor dem Wald stand. Daran befestigte er die Leine.
Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war es bereits Nachmittag. Das Gras war hoch und warm.
« Darf ich mich setzen?», fragte ich.
« Du bist doch keine Kuh», sagte der Thönges anstatt einer Antwort. Es sah aus, als wunderte er sich.
« Das stimmt», sagte ich. «Ich bin keine Kuh.»
« Du bist dünn.»
War das nun gut oder schlecht. Eher nicht so gut, vermutete ich.
«Das … tut mir leid.»
Ich ging in die Hocke, dabei sah ich Thönges an. Als er weiter keine Miene verzog, ließ ich mich auf die Knie sinken. Das Gras war weich und duftete. So lange ich hier draußen war, hatte ich vielleicht eine Chance. Wenn er wollte, dass ich ein Tier für ihn war, dann würde ich ein Tier sein. Möglichst eines, das man nicht in ein Kellerloch steckte.
« Bin ich vielleicht … ein Reh?»
Er schnaubte höhnisch.
«Du bist kein Reh. Ha! Da hab ich schon viele gesehen. Im Wald und am Baum. Die sehen anders aus. So braun und weich.»
Am Baum, fragte ich mich, was sollte denn das nun wieder bedeuten?
«Nein … natürlich. Sie kennen sich wohl sehr gut mit Tieren aus? Ich bin Nora, einfach Nora.»
« Ich mag Tiere.»
« Ja, ich mag Tiere auch sehr gern.»
« Manchmal gehen sie tot.»
« Ja, das ist natürlich traurig.“
«M uss sein. Muss sein»
« Warum?»
„ Darum.“
«Aber warum, w er sagt denn das?»
Auf die letzte Frage bekam ich keine Antwort.
Entweder hatte Thönges mich nicht gehört oder er wollte sie nicht beantworten. Er starrte zum Haus, trat einige Schritte darauf zu. Dann trat er von einem Fuß auf den anderen, dabei murmelte er halblaut vor sich hin. Ich nutzte die Gelegenheit, da ich mich unbeobachtet fühlte und sah mich um. Niemand außer uns war zu sehen. Es war still, bis auf die Hühner, die irgendwo gackerten. Plötzlich lief Thönges los und verschwand hinter dem Haus.
Ich wartete.
Der Gedanke an die schreiende Frau ließ mich nicht los. Vielleicht wohnte sie überhaupt nicht hier, eine Nachbarin, eine Besucherin, mit der er sich gestritten hatte?
Nein, erstens gab es hier weit und breit keine Nachbarn und zweitens hatte das Weinen so verzweifelt geklungen, gequält. Dafür musste es einen schwerwiegenden Grund gegeben haben.
Ich wartete lange.
Irgendwann trat Thönges um die Hausecke. Etwas an ihm hatte sich verändert. Ich versuchte es abzuschätzen. Doch ich konnte es nicht greifen.
Er starrte mich an. Als sähe er mich zum ersten Mal. Dann kam er näher, irgendwie zögernd, als erinnerte er sich nicht, wie ich auf seinen Hof gekommen war.
Kurz entschlossen wagte ich noch einen Versuch. Was hatte ich schon zu verlieren? Dieses irre Gerede vorher – es musste doch noch möglich sein, zu so etwas wie einem vernünftigen Kern in diesem Mann vorzudringen. Als ich ihm zuerst begegnet war, da hatte er doch auch halbwegs normal gewirkt, unzugänglich vielleicht, aber doch nicht verrückt.
«Herr Thönges, ich … was habe ich Ihnen getan? Warum lassen Sie mich nicht frei? Können Sie mich bitte gehen lassen? Ich werde auch niemandem etwas sagen.»
Er glotzte. Streckte
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