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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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die Hand aus. Ich wich zurück.
    Am liebsten hätte ich ihn angeschrien: Du irrer Vollidiot, mach mich sofort los! Mein Freund ist Polizist, der knallt dich ab, du Sau!
    Vorsichtshalber verstummte ich. In meinem Kopf rotierten die Gedanken. Wirr und unzusammenhängend. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Infolgedessen wusste ich nicht, was ich tun oder sagen sollte. Schweigen? Dann konnte ich keine Beziehung zu diesem Mann aufbauen und das musste ich um jeden Preis versuchen. Ich wollte nicht zurück in die kalte Grube, alles, nur nicht wieder in der Dunkelheit sitzen.
    « Herr Thönges, was wollen Sie von mir?», platzte es aus mir heraus. «Bitte, sagen Sie mir wenigstens, warum Sie mich hier festhalten. Ich verstehe das nicht. Ich habe Ihnen doch nichts getan!»
    « Halt‘s Maul, dumme Sau.»
    Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. War es gut oder falsch, jetzt zu weinen? Die Frage erübrigte sich im nächsten Augenblick. Ohne dass ich es verhindern konnte, strömte es nur so aus mir heraus, ich schluchzte und konnte nicht wieder aufhören. Ich wollte nur noch nach Hause. Wenn doch alles nur ein böser Traum wäre!
    Lieber Gott, oder wer mich auch sonst hört, bitte mach, dass ich aufwache und alles wieder gut ist. Das Rauschen füllte meine Ohren und meinen Kopf und ich spürte nicht mehr, wie ich umkippte.
     
    Das Kind läuft mir über die Wiese entgegen. Es lacht. Vor ihm läuft ein Kaninchen. Es ist klein und nicht sehr schnell. Als der Junge sich in das Gras setzt, hoppelt das Tierchen noch eine Weile herum. Dann kommt es zutraulich näher und beschnuppert die nackten Knie des Knaben. Der lächelt und entblößt dabei eine breite Zahnlücke. Der Junge ist mager und seine Arme und Beine sind von Striemen bedeckt. In diesem Moment ist er glücklich. Zum ersten Mal sehe ich sein Gesicht. Es ist eher rund und unter dem Kinn leuchtete eine hellrote Narbe. Eine kleine Hand krault vorsichtig das seidige Fell. Zwischen den Ohren, das mögen sie am liebsten. Der Junge summt eine kleine Melodie. Da fällt ein Schatten über den Jungen und das Tier. Er hat ihn nicht kommen hören. Eine harte, schwielige Hand zieht den Jungen an den Haaren hoch. Die andere Hand packt das Kaninchen. Wie oft habe ich gesagt, du sollst sie nicht herauslassen, dröhnt die Stimme. Tut mir leid, Papa. Wer nicht hören will, kommt ins Loch. Ei machen, Papa. Nicht in das Loch. Du. Komm her. Töte es. Nein, Papa. Er versteht es nicht, Papa. Nicht in das Loch. Ich tue es ja, Papa. Siehst du?
     
    Ich spürte den Fußtritt in die linke Seite, davon wachte ich auf oder ich kam zu mir, wie man das auch immer nennen wollte.
    Es tat nicht weh, jedenfalls nicht sehr. Thönges hatte nicht fest zugetreten. Ich zusammengekrümmt im Gras und das nächste, was ich fühlte, waren die Steinchen, die sich in meine Wange bohrten. Ich rappelte mich hoch.
    Wie lange hatte ich dort gelegen? Die Sonne schien noch.
    Thönges stand über mir. Er sah schon wieder anders aus. Ich konnte nicht sagen, was es war. Seine Stimmung schien sich ständig zu wandeln. Mal wirkte er geradezu schwachsinnig, dann wieder halbwegs normal. Nein, normal natürlich nicht. Anders.
    Thönges knotete die Leine los und schubste mich in Richtung Scheune. Ich war noch nicht ganz bei mir, doch nachdem ich ein paar Schritte vorwärts gestolpert war, blieb ich stehen.
    Er zog. Ich stemmte die Füße in den Boden wie ein störrisches Kalb. Das Band schnürte sich in meinen Hals.
    « Ich – will – nicht!»
    « Wer nicht hören will, kommt ins Loch!»
    « Bitte … nicht da hinein. Können … Sie mich nicht woanders einsperren. Ich habe Angst im Dunkeln.»
    Der Zug an der Leine ließ nach. Thönges stand und starrte mich an. Ich erwiderte den Blick, auch wenn ich nicht sicher war, was der Mann sah. Sah der überhaupt mich, also eine Frau?
    « Wir finden doch bestimmt eine Lösung. Am besten lassen Sie mich jetzt los. Es ist ja noch nichts Schlimmes passiert. Dann kann ich nach Hause fahren und niemand muss etwas erfahren. Wissen Sie, mein Freund müsste jeden Moment kommen. Ich habe ihm ja gesagt, dass ich zu Ihnen fahre.»
    Meine Stimme zitterte und ich spürte, dass mein Hals nicht nur von dem Band zugeschnürt wurde. Es waren die ersten Anzeichen der Schluckbeschwerden, die bei mir stets eine Erkältung ankündigte.
    «Du lügst.»
    Wenn ich Thönges für dumm gehalten hatte, dann sah ich jetzt ein, dass es ein Fehler gewesen war. Ich schwieg.
    « Der holt den Stock. Papafritz.

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