Nora Morgenroth: Die Gabe
frei, wie ich es unter diesen Umständen erwarten konnte. Frankas Wohnung war kaum wieder zu erkennen. Dann kramte ich aus einer Küchenschublade eine alte Plastiktüte hervor und stopfte die Klamotten hinein, die ich gestern Abend getragen hatte. Ich verließ die Wohnung und versenkte die Tüte in einer der Mülltonnen vor dem Haus. Nur die Jacke, die ich getragen hatte, behielt ich an, die wegzuwerfen hätte ich dann doch nicht über mich gebracht. Alles, was ich direkt auf dem Leib getragen hatte, als dieser ekelhafte Typ mich anfiel, landete im Müll.
Wegen der geliehenen Kleidungsstücke huschte ich mit gesenktem Kopf zum Wagen. Bestimmt sah ich vollkommen lächerlich aus. Zum Glück wohnte Franka in einem Viertel, in dem niemand auf den anderen achtete. Oder vielmehr kümmerte es keinen, wie der andere aussah. Punks, Grufties, Alt-Hippies und einige wenige deutsche Rentner lebten hier Tür an Tür mit Menschen aus ungefähr zwanzig verschiedenen Nationen. Das Zusammenleben war bunt und überraschend einträchtig. Die Häuser waren zum Teil so verkommen, dass man damit rechnete, im nächsten Moment die Abrissbagger um die Ecke biegen zu sehen. Was nicht ganz unwahrscheinlich war, denn ein Teil der Gebäude stand bereits leer. Niemand würde sich hier nach einer Frau umsehen, die zu ihren ungekämmten langen Haaren ein schwarzes XXL-Schlafshirt, eine pinkfarbene Jogginghose und darüber eine edle Lederjacke trug. Ach ja, und nicht zu vergessen meine Cowboystiefel, die gestern zu den engen Jeans noch gut ausgesehen hatten.
Zwanzig Minuten später war ich zuhause. Ausnahmsweise funktionierte der Fahrstuhl, so dass ich rasch und ungesehen in die Wohnung gelangte. Als erstes ging ich auf den Balkon und sah hinunter zu meinem Wagen. Er parkte genau an der Stelle, an er ich überfallen worden war. Ich nutzte diesen Platz immer, wenn er frei war. Was hätte es heute für einen Sinn gehabt, den Wagen woanders abzustellen? Es war für mich der kürzeste Weg zum Haus. Alles sah aus wie immer, natürlich. Hatte ich vielleicht erwartet, dass der Typ dort stehen würde? Trotzdem blieb das diffuse Gefühl einer lauernden Gefahr. Ich war in meiner Wohnung und hatte abgeschlossen. Und dennoch, etwas stimmte nicht. Ich schloss die Augen und lauschte in mich hinein.
Yasmine …
Yasmine , wo bist du?
Kein Rauschen erfüllte meine Ohren und mein Körper fühlte sich an wie immer. Nur das andere Gefühl blieb. Keine Präsenz, doch etwas war anders als sonst. Es fühlte sich nicht richtig an. Ich setzte mich in Bewegung, ging von Raum zu Raum. Schließlich kehrte ich in das Wohnzimmer zurück, versuchte meinen Blick zu schärfen.
Yasmine , wo bist du? Hilf mir doch…
Dann sah ich es. Vor dem mittäglichen Himmel wich eine Wolke zur Seite, ein breiter Sonnenstrahl fiel in das Zimmer. Er zauberte eine honigfarbene Schneise auf den Holzboden und den Glastisch, wo er ein staubfreies Rechteck enthüllte.
Mein Laptop.
Ich wusste genau, dass er dort zuletzt gelegen hatte. Es gab keinen Zweifel. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich starrte auf den Tisch. Kein Zweifel, jemand war in der Wohnung gewesen und nun war der Laptop fort. Ich musste nicht die ganze Wohnung auf den Kopf stellen, um das zu wissen. Ich hatte es nirgendwo anders hin getan.
Also war mein Gefühl richtig gewesen: Ich war zu Hause nicht mehr sicher. Ganz kurz schoss mir die Möglichkeit durch den Kopf, einfach 110 zu wählen und den Einbruch zu melden. Oder gleich den Herrn Lüdke anzurufen.
Und dann? Der Diebstahl an sich war doch nebensächlich und bei meinem eigentlichen Problem konnte die Polizei mir ohnehin nicht helfen. Sollte ich um Polizeischutz bitten, weil ein bekannter Politiker ( „ Herr Lüdke, Sie wissen schon, der aus meinem Trau m “) seine Schergen ausgesandt hatte? Erst der Überfall, den ich im Übrigen gar nicht angezeigt hatte und dann war ein einziger Gegenstand aus meiner Wohnung verschwunden. Es sah nicht einmal aus, als wäre eingebrochen worden. Nichts war durcheinander oder zerstört.
Nein, diesen Anruf würde ich erst machen, wenn ich einen handfesten Beweis in den Händen hielte. Mir blieb nichts anderes übrig, als gleich zu Franka zurückkehren.
Ich lief in das Schlafzimmer und zerrte die alte Reisetasche unter meinem Bett hervor. Dann zerrte ich wahllos Kleidungsstücke aus dem Schrank. Was mir für die Abwesenheit von ein paar Tagen nützlich erschien, stopfte ich in die Tasche, den Rest ließ ich liegen.
Keine zehn
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